Julias Geheimnis
dass sein Name nicht darinstand, denn er wusste, dass diese Aufzeichnungen keineswegs vollständig waren. Aber er war in Barcelona adoptiert worden. Und er musste es wissen.
Schwester Julia kam mit dem Buch zurück und reichte es Andrés. »Sie sind der Erste, mein Sohn«, sagte sie.
Andrés hatte tief Luft geholt und das Buch aufgeschlagen …
Sie lehnten sich an das hölzerne Geländer und sahen auf die Felsen im Hafen hinunter.
»Ich mag deine Eltern«, sagte Ruby.
Er lachte. »Beide?«
»Ja, beide.«
Das konnte er verstehen. Seine Mutter hatte sich heute Abend beinahe überschlagen. Sie war herumgewieselt, um dieses zu holen und jenes wegzutragen, bis Andrés und Enrique sie schließlich fast mit Gewalt zum Tisch gezerrt und sie zum Sitzen und zum Essen genötigt hatten. »Ich bin nur so glücklich«, hatte sie gesagt. »Mein Sohn ist zu Hause, und ich bin so glücklich.«
Mein Sohn …
Und sein Vater … Der alte Herr mochte krank sein, aber er hatte nichts von seinem Charme verloren. Und als er dann zuhörte, wie Enrique versuchte, das Mädchen zu bezirzen, das Andrés liebte … Nun ja, neu war, dass es ihm nichts mehr ausmachte. Es gefiel ihm sogar ganz gut.
»Isabella mag ich auch«, sagte Ruby. »Und Carlos.«
Andrés drückte ihre Hand. Ja, seine Schwester hatte sich einen guten Mann ausgesucht. Sicher, noch hatten sie keine Kinder. Aber sie hatten noch Zeit, vor allem, wenn man sich ihre Eltern ansah. Reyna und Enrique, die gezwungen gewesen waren, ihr erstes Kind zu adoptieren, weil sie glaubten, auf natürliche Weise keine Kinder bekommen zu können, hatte Isabellas Ankunft völlig aus heiterem Himmel getroffen.
»Was empfindest du denn nun für deine Eltern?«, fragte Ruby. Sie sah zu ihm auf. Von allen Menschen auf der Welt würde sie vermutlich am besten verstehen, welche gemischten Gefühle er derzeit hatte.
Hatte er sich denn nicht selbst den ganzen Tag lang diese Frage gestellt? Andrés betrachtete die Statue der Fischersfrau, die auf dem Hügel an der Straße Muelle de Pescadores – der »Mole der Fischer« – stand. Sie wartete … »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Noch nicht.«
»Es wird einige Zeit dauern, bis du das verdaut hast.« Rubys Hand lag auf seinem Arm. »Man kann das nicht alles auf einmal verarbeiten. Niemand kann das.«
Da hatte sie wohl recht. Aber es stimmte auch, dass er immer noch eine Familie hatte. Er hatte die Namen seiner Eltern in dem Buch gesehen. Marín. Er hatte den Eintrag chico – ein Junge – gesehen und sein echtes Geburtsdatum. Und er hatte einen Frauennamen gelesen. Florentina Chávez. Seine leibliche Mutter. Und dann hatte er das Buch zugeschlagen und es Schwester Julia zurückgegeben. »Danke«, hatte er gesagt. Was würde er mit dieser Information anfangen? Er wusste es noch nicht.
Aber immerhin kannte er jetzt die Wahrheit. Und wusste,dass seine Familie ihm nun näher war als während der letzten siebzehn Jahre. Denn das Merkwürdige war, dass bei dem Essen heute Abend tatsächlich ein familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen allen geherrscht hatte. War das früher auch schon so gewesen? Vielleicht. Aber jetzt … Sein Vater war nicht mehr so zornig und seine Mutter nicht mehr so nervös. Es war, als ob sie alle, nachdem die Wahrheit einmal heraus war, entspannen und ihr wahres Ich zeigen konnten.
»Ich weiß, dass ich das nicht wiedergutmachen kann«, hatte sein Vater mit angespanntem, eingefallenem Gesicht gesagt, als er nach oben gegangen war, um schlafen zu gehen. Er hatte Andrés fest an der Schulter gepackt. »Aber ich bin entschlossen, es in der kurzen Zeit, die mir noch bleibt, zu versuchen, mein Junge.«
Also …
Andrés nahm Rubys Hand und führte sie den Abhang hinunter auf den steinigen Strand. Irgendwo weit weg wurde in einer Bar spanischer Flamenco gespielt. Und die Wogen rollten in ihrem eigenen hypnotischen Rhythmus heran.
Auf dem Rückweg vom Kloster hatte Ruby Andrés von der Suche nach ihrer Mutter und ihren Ergebnissen berichtet. Und sie hatte ihm die ganze Geschichte der niños robados erzählt und ihm erklärt, was sie deswegen unternehmen wollte. Er spürte ihre Aufregung und wusste, dass dies trotz ihrer Enttäuschung wegen Laura wichtig für sie war. Es war eine Sache, mit der sie sich identifizieren konnte. Auch er konnte eine dieser Stimmen werden, wenn er wollte.
»Was ist mit der Spätsommer-Kunstausstellung?«, fragte ihn Ruby. »Ist am nächsten Wochenende
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