Julias Geheimnis
wild.
Andrés musste lächeln. Manchmal erinnerte sie ihn an ihrer beider Vater. »Ich liebe dich, Isabella«, erklärte er.
»Ich liebe dich auch.« Als sie weitergingen, hakte sie sich bei ihm unter. »Du wirst immer mein Bruder sein.«
»Natürlich werde ich das.« Es stimmte; an seinen Gefühlen für seine Schwester hatte sich nichts geändert. Auch für seine Mutter empfand er nicht anders. Doch was seinen Vater anging, war die Sache nicht so einfach.
Das Zentrum beeindruckte Andrés. Es war geschaffenworden, um die Vielfalt der aufregenden künstlerischen Talente auf der Insel zu würdigen – Bildhauer, Töpfer, Maler. Und es stellte eine große Leistung dar. Im Hof und in dem landschaftlich gestalteten Park standen an jeder Ecke Skulpturen aus Holz, Bronze, Stein und Stahl. Sie stellten Muscheln und Treppen dar, Ziegen und Wirbelwinde. Es gab sogar eine Skulptur aus Vulkanlava mit dem Titel »Innere Glückseligkeit«. Andrés musste lächeln. Innerer Aufruhr traf, was ihn anging, eher zu. In einer Werkstatt gaben professionelle Künstler Kurse; und es gab ein Atelier, das von angehenden Künstlern, die keine eigenen Arbeitsräume besaßen, genutzt werden konnte. In weiträumigen, weiß gestrichenen Ausstellungsräumen hingen Keramiken und Gemälde. Jeder zeitgenössische Stil, jede Technik und alle Themen, die man sich vorstellen konnte, waren vertreten.
»Was meinst du?«, fragte Isabella ihn. »Es ist herrlich, nicht wahr?«
Das war es. Die kühnen Pinselstriche, die lebhaften Nuancen von Blau, Grün und Gelb, die Vielzahl der Ocker- und Brauntöne, die an einem einzigen Berg zu finden waren, überwältigten Andrés. Als junger Mensch hätte er alles gegeben, um Anteil an so etwas zu haben.
»Unser Vater ist kein schlechter Mensch«, sagte Isabella, als sie das Zentrum etwa eine Stunde später verließen. »Er hat so viel erreicht.«
Sollte er ihn deswegen mehr lieben? Inzwischen hatte Andrés bezüglich seines Vaters jeden Gemütszustand durchlaufen, der möglich war. Verehrung, Zorn, Hass, Scham … Und jetzt? Die Wahrheit war, dass er nicht wusste, was er empfand.
Isabella zeigte auf das Zentrum, das hinter ihnen lag. »Erhat dazu beigetragen, das hier zu schaffen«, meinte sie leise. »Er hat vielen Menschen geholfen.«
»Kann schon sein.« Andrés dachte an die Mädchen im Atelier und an seine Mutter. Aber hatte er selbst nicht auch anderen Leid zugefügt?
Isabella schien zu erraten, was er dachte. »Er hat in seinem Leben viele Fehler begangen«, räumte sie ein. »Aber er ist unser Vater.«
»Ja.« Andrés tätschelte ihre Hand. Er wusste, wie sehr sie sich eine Versöhnung zwischen ihnen wünschte. Und er zweifelte weder an ihrer Liebe noch an ihrer Aufrichtigkeit. Aber Enrique Marín war nicht Andrés’ Vater, oder? Würde es ihm gelingen, eine neue Sicht auf ihn zu gewinnen? War er in der Lage, Vergebung in seinem Herzen zu finden? Die Stimme zum Schweigen zu bringen, die weiter flüstern würde: Vergiss nicht, dass er sich nicht für dich interessiert hat .
»Kommst du noch herein?«, fragte Isabella, als sie vor dem Haus hielten, das sie mit ihrem Mann Carlos bewohnte.
»Das geht leider nicht, Isabella«, sagte Andrés. Er hatte noch etwas zu erledigen.
»Aber wir sehen dich heute Abend?« Isabellas Miene war eifrig.
Andrés beugte sich zu ihr hinüber, um sie auf die Wange zu küssen. »Natürlich«, sagte er leichthin, obwohl er sich beinahe davor fürchtete. Ein Familienessen mit allen. Wie sollten sie sich alle zusammen an den Tisch setzen und so tun, als hätte sich nichts geändert?
»Und was hast du jetzt vor?«, erkundigte sich Isabella. Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte ihn forschend – der Blick einer Frau. »Willst du sie treffen?«
»Sie?«
»Ruby.« Isabella drückte seine Hand. »Ich kann sie gut leiden«, sagte sie. »Ich mag sie sehr gern.«
Andrés lächelte ihr zu. »Ja, ich werde sie treffen«, sagte er. Wenn sie damit einverstanden war. »Aber zuerst muss ich jemand anderen besuchen.«
»Jemand anderen?«, fragte Isabella.
»Es gibt jemanden, der dir mehr erzählen kann«, hatte sein Vater gesagt. »Sie hat in der Klinik in Barcelona gearbeitet, bevor man sie hierher, ans Ende der Welt, verschifft hat, um sie aus dem Weg zu schaffen. Ich bin ihr ein paar Mal begegnet.«
»Von wem sprichst du?«
»Eine Nonne in Nuestra Señora del Carmen«, erklärte Andrés seiner Schwester.
»Sie hat Aufzeichnungen geführt«, hatte Enrique
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