Julias Geheimnis
einer Landschaftsaufnahme. »Es gibt auch keine Fotos von Mum, als sie schwanger war«, flüsterte sie.
»Ich weiß gar nicht, was du willst«, seufzte Mel. »Mal ehrlich, Ruby, wer möchte sich denn fotografieren lassen, wenn er fett ist?«
»Kann schon sein.« Aber schwanger war nicht dasselbe wie fett, oder? Eine Schwangerschaft war eine Zeit voller Hoffnung, Erwartung und Aufregung. Und sie rechnete nach. »Es gibt ungefähr ein Jahr lang keine Fotos«, sagte sie. Ein Jahr. Auch vor dem digitalen Zeitalter war das eine lange Zeit gewesen.
»Vielleicht waren die Fotos, die sie gemacht haben, nicht gut genug, um sie ins Album zu kleben«, meinte Mel. »Oder die Kamera ist kaputtgegangen, und sie konnten sich keine neue leisten.«
»Ja. Oder ich bin wirklich nicht ihre Tochter.« Da. Sie hatte es ausgesprochen.
Wie oft hatte sie sich dieses Album schon angesehen? Die Wahrheit sprang einem geradezu ins Gesicht, aber sie war nicht in der Lage gewesen, sie zu sehen. Keine Schwangerschaft. Kein neugeborenes Baby.
»Was ist mit deiner Geburtsurkunde?«, fragte Mel.
Ruby starrte sie an. Geburtsurkunde?
»Du musst doch eine haben.«
Ja, natürlich hatte sie eine. »Die ist in London.« Mit dem Rest ihrer Sachen, in James’ Wohnung. Sie hatte sie lange nicht mehr in der Hand gehabt, sie lag irgendwo in einer Schublade. Aber sie hatte damit ihren ersten Pass beantragt. Erleichterung breitete sich in ihr aus.
Mel stand da und stemmte die Hände in die Hüften. »Und was steht da drin? Wer sind deine Eltern?«
»Ach, Mel …« Vivien und Tom Rae waren ihre Eltern. Anders konnte es gar nicht sein, denn ihre Namen standen in ihrer Geburtsurkunde.
»Wenn ich dich schon nicht davon überzeugen kann, dass du dir etwas einbildest, dann wenigstens deine Geburtsurkunde«, sagte Mel. »Du regst dich völlig unnötig auf. Glaub mir. Ruby Rae ist Ruby Rae, in jeder Hinsicht. Okay?«
»Okay.« Sie atmete tief durch. »Danke, Mel.« Sie würde James anrufen, nach London fahren und ihre ganzen Sachen holen, beschloss sie. Sie würde ihre Geburtsurkunde finden und aufhören, sich Gedanken zu machen. Mel hatte recht. Es gab gar keinen Grund, sich so verrückt zu machen.
Doch nachdem Mel gegangen war, zog Ruby ein Foto hervor, das sie aus irgendeinem Grund nicht zurück in die Schachtel gelegt, sondern in ihre Handtasche gesteckt hatte. Sie betrachtete die blonde junge Frau mit dem kleinen Baby, die irgendwo an einem Mittelmeerstrand stand. Sie sah das Baby an. Ein winziges Gesicht, ein blonder Haarflaum. Ein Baby war nur ein Baby – sahen sie nicht alle ziemlich gleich aus?
Sie musterte auch das Mädchen. Ihren Mund, der leise lächelte, und die Hippie-Perlen um ihren Hals. »Wer bist du?«, flüsterte sie. Geheimnisse … Wenn Fotos nur reden könnten.
5. Kapitel
DORSET, 1977
I ch verstehe nicht, warum dir das so wichtig ist«, sagte Tom.
Vivien hatte die Fäuste fest geballt. Sie hatte das Gefühl, wenn sie ihre Finger auch nur eine Sekunde entspannte, würde die Willenskraft, die sie brauchte, um es ihm begreiflich zu machen, sie verlassen.
»Ich auch nicht«, gab sie zurück, »aber so ist es nun einmal.« Sie stritten sich so gut wie nie, aber jetzt standen sie kurz davor. Sie schob ihren Teller zur Seite; sie konnte nichts mehr essen. Sie hatte gedacht, die entspannte Stimmung nach dem Abendessen, zu dem es Toms Leibgericht gegeben hatte, wäre ein guter Zeitpunkt, um das Thema anzuschneiden. Aber diese Rechnung war nicht aufgegangen.
Tom schaute traurig drein. »Bin ich dir nicht genug?«, fragte er.
»Natürlich bist du das«, sagte sie. »Es ist nur so …«
Sie hatte schon gewusst, dass sie nur ihn wollte, als sie ihm in den Monaten nach ihrer Begegnung auf dem Jahrmarkt geschrieben hatte, als sie ihm kleine Strichmännchen geschickt hatte, die Vivian und Tom beim Schwimmen, Radfahren und Küssen darstellten.
Und ihm schien es genauso zu gehen, denn er hatte aufgehört, für ein Motorrad zu sparen, und von dem Geld lieber Zugfahrkarten gekauft, um sie in Worthing zu besuchen, so oft er konnte. Aber es war nie oft genug gewesen.
An Viviens achtzehntem Geburtstag hatte er sie angerufen. »Wenn du hier wärest, mein süßes Mädchen, würde ich dich ganz groß zum Essen ausführen«, sagte er.
Vivien hatte den Telefonhörer noch fester ans Ohr gedrückt. »Würdest du mir auch Blumen kaufen?«, fragte sie. Einige der Mädchen am College beneideten sie um den Freund aus Dorset, der ihr schrieb
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