Julias Geheimnis
Spülbecken und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. An manchen Tagen schmerzte die Sehnsucht Vivien so sehr, dass sie nichts mit sich anzufangen wusste.
Am nächsten Nachmittag besuchte Vivien ihre Nachbarin Pearl Woods.
»Du siehst aus, als wärest du nicht ganz auf dem Damm«, bemerkte Pearl, als sie die Teetassen und einen Teller Vollkornkekse auf den Küchentisch stellte. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich«, antwortete Vivien, obwohl sie und Tom sich bisher nicht vertragen hatten. Dies war der längste und schlimmste Streit, den sie je gehabt hatten.
»Du bist doch nicht …«
»Nein.« Vivien hatte Pearl anvertraut, dass sie es versuchten.
Pearl schob ihr den Plätzchenteller hin. »Nimm noch eins.«
Vivien lächelte. Ihr fiel jedoch auf, dass Pearl nichts aß. Und wenn sie recht überlegte, sah sie selbst ein wenig abgespannt aus. »Ich war beim Arzt«, sagte sie.
»Ach ja?«
Vivien stellte fest, dass es im Haus nach Lavendel duftete. So roch es bei Pearl immer. Es wirkte irgendwie beruhigend. »Er möchte ein paar Untersuchungen vornehmen, um herauszufinden, wo das Problem liegt.«
»Ist vielleicht nur eine Frage der Zeit«, meinte Pearl.
»Das sagt Tom auch.« Aber das war nicht alles, was Tom gesagt hatte …
»Wenn ich es richtig verstehe, möchte Tom sich nicht untersuchen lassen?«
»Nein.« Aber was bedeutete das für sie? Was wurde dannaus ihr und aus diesem schmerzlichen Gefühl, dass in ihrem Leben etwas fehlte?
Wieder schob Pearl ihr den Plätzchenteller hin, und Vivien nahm zerstreut noch eins. »Wie wichtig ist es für dich, ein Baby zu bekommen, Liebes?«
Vivien sah Pearl wortlos an.
Pearl nickte. »Ich verstehe. So wichtig.« Sie seufzte. »Bei mir war das auch so – leider. Dann solltet ihr die Tests machen und herausfinden, was dahintersteckt. Sonst wird es immer zwischen euch stehen.«
Mit einem Mal verzog Pearl das Gesicht, als hätte sie Schmerzen.
Vivien sprang auf. »Pearl?« Ihre Nachbarin war ganz blass geworden und krümmte sich auf ihrem Stuhl. »Was hast du? Was ist los?«
»Schon gut, Liebes.« Sie streckte eine Hand aus, und Vivien nahm sie. »Es geht wieder weg. Das tut es immer.« Sie holte ein paar Mal tief Luft, als müsse sie sich beruhigen.
Das tut es immer? »Ich hole dir ein Glas Wasser«, sagte Vivien und ging zum Spülbecken. Pearl ging es offensichtlich alles andere als gut, und Vivien hatte die ganze Zeit nur über ihre Probleme geredet …
»Was ist los?«, fragte sie noch einmal. »Warst du beim Arzt?«
Und Pearl erzählte ihr alles. Von dem Krebs, und wie lange sie noch zu leben hatte. Ein Jahr, wenn sie Glück hatte. Vielleicht weniger.
Vivien war schockiert. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie Pearl in letzter Zeit nicht mehr bei der Gartenarbeit oder beim Fensterputzen gesehen hatte oder in Eile auf dem Weg zum Einkaufen. Pearl hatte immer so vor Energie gesprüht. Seit ihrerScheidung lebte sie allein. »Was ist mit Laura?«, fragte sie. Pearls 19-jährige Tochter war vor über einem Jahr auf Reisen gegangen, und Vivien wusste genau, dass sie kaum etwas von sich hören ließ. Vivien hatte deshalb irgendwann aufgehört, sich nach Laura zu erkundigen. »Weiß sie Bescheid?«
»Ich will nicht, dass sie es erfährt.« Pearls Gesicht hatte seine Farbe zurückgewonnen, und es schien ihr wieder besser zu gehen. »Es gibt nichts, was sie tun könnte.«
Aber hatte sie es nicht verdient, davon zu erfahren? Es konnte doch nicht richtig sein, dem Mädchen zu verschweigen, dass seine Mutter sterben würde. Vivien dachte an ihre eigenen Eltern in Schottland. Sie besuchte sie immer noch, aber sie tat es nicht oft, und sie hatten einander nie nahegestanden. Die beiden waren so vollkommen anders als Vivien – so normal und konservativ, steif und langweilig. Als sie ihre Zelte abgebrochen hatten und mit allem, was sie besaßen, auf eine einsame Hebriden-Insel gezogen waren, hatte Vivien es kaum glauben können. Vielleicht, hatte sie Tom gestanden, hatte sie die beiden doch nicht so gut gekannt, wie sie dachte.
»Wenn ich es ihr sage, wird sie das Gefühl haben, dass sie sofort zurückkommen muss.« Pearl seufzte. »Das will ich nicht. Sie soll erst kommen, wenn sie bereit dazu ist.« Noch ein Seufzer. »Das verstehst du doch, Vivien?«
Verstand sie das? Ohne eigene Kinder konnte sie sich schwer in Pearls Lage hineinversetzen. Wenn sie eine Tochter hätte, würde sie es dann so weit kommen lassen? Vivien glaubte es
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