Julias Geheimnis
enger an ihn. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. Angst davor, was sie vielleicht erfahren würde. Aber Pearl hatte recht, sie mussten es wissen.
Er drückte sie fester an sich. »Du musst keine Angst haben, Schatz. Wir müssen die Fakten kennen. Und wenn die Ärzte etwas tun können, um uns zu helfen … Wir werden auf jeden Fall alles versuchen.«
Alles. Vivien stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte sich so gewünscht, dass Tom das sagen würde. »Danke, Tom«, sagte sie. Wenn Tom an ihrer Seite war, konnte sie mit allem fertigwerden. Und wenn sie Bescheidwussten, konnten sie entscheiden, was sie deswegen unternehmen sollten – gemeinsam.
»Und bis dahin können wir auf jeden Fall weiter üben.«
»Üben?« Vivien schloss die Augen.
Ein Kind zu bekommen . Sie fühlte, wie seine Lippen über ihren Mund strichen, spürte seine Hand auf der weichen Haut ihres Oberschenkels. Und sie dachte an Pearl – die arme Pearl, die nur versucht hatte, für das zu kämpfen, was ihr gehörte, die Krebs hatte und allein war und die nicht einmal wusste, wo ihre Tochter Laura war.
6. Kapitel
A ndrés saß an einem Tisch vor einem Café am Strand, das er in letzter Zeit häufiger besuchte. Bald würde es von Sommertouristen überrannt werden. Aber noch herrschte die Ruhe vor dem Sturm – besonders um diese Tageszeit, wenn die meisten Leute am Strand ihre Sachen zusammenpackten, um nach Hause zu ihren Familien zu fahren. Das schenkte ihm das, was er brauchte, besonders außerhalb der Saison: Zeit zum Nachdenken, ein Gefühl der Ruhe und den Blick aufs Meer. Sí. Bueno . Der Kaffee war hier ausgezeichnet.
Doch heute war sein Kaffee kalt geworden. Denn er hatte aufs Meer hinausgesehen und vor sich hingeträumt. Dieses Meer unterschied sich sehr von dem, das die Insel umgeben hatte, auf der er aufgewachsen war. Das Meer hier war unendlich weit und von einem sanften Blaugrün; es war etwas vollkommen anderes. Und doch ähnelten sich die Landschaften. Vielleicht war das der Grund, aus dem er hierhergekommen war, nach West Dorset. Es war eine Flucht aus London gewesen, wo er sich zuerst niedergelassen hatte, als er nach England gekommen war. Und genauso gerne wie er die Landschaft seiner Heimat gemalt hatte, malte er diese hier.
Zuhause auf der Insel hatte ihn einmal ein Engländer angesprochen, als er nachmittags unten am alten Hafen gemalt hatte. Der Engländer hatte seine Arbeit bewundert und von West Dorset erzählt. »Sie sollten einmal dorthin fahren«, hatte er gesagt. »Unglaubliche Klippen – die Jura-Küste, Millionen von Jahren alt, ein bisschen wie hier, wissen Sie.« Daswar schon alles. Aber deswegen war Andrés, als er sich in England wiederfand, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, nach Dorset gekommen, um sich die Küste anzusehen. Wahrscheinlich war er trotz allem, was geschehen war, auf der Suche nach einem kleinen Stück Heimat gewesen.
Er hatte einen Zettel im Postamt des Dorfs aufgehängt und seine Dienste angeboten. Er hatte früher in Ricoroque schon Malerarbeiten übernommen. Damals hatte er es nur als Gelegenheitsjob betrachtet, bis er entscheiden würde, was er eigentlich tun wollte. Vielleicht auch, bis er sich einen Namen als Künstler gemacht hatte. Er hatte auf einigen der vielen Hotel-Baustellen gearbeitet. Um die Nachfrage der Touristen zu erfüllen, schossen die Hotels überall auf der Insel geradezu aus dem Boden.
Der Zettel hing gerade einmal zwei Tage im Fenster des Postamts, als ihn die Postmeisterin schon damit beauftragte, die Fassade ihres Hauses zu streichen. So hatte es begonnen. Wenn man die Außenseite eines Hauses streicht, bleiben die Leute stehen und reden mit einem. Und wenn man für die Postmeisterin des Dorfs arbeitet, hören die Leute davon. Es sprach sich herum. Andrés Marín war ein Handwerker alter Schule. Er war altmodisch und verlässlich, und seine Preise waren fair. Er leistete gute Arbeit und war so vertrauenswürdig, dass man ihn im Haus allein lassen konnte. Andrés hatte weitere Aufträge bekommen. In Dorset konnte er sich seinen Lebensunterhalt verdienen. Und so war er geblieben.
Er verdiente mehr, als er zum Leben brauchte, und begann, Geld beiseitezulegen. Er kaufte sich einen Lieferwagen und suchte sich eine bessere Wohnung. Nach ein paar Jahren hatte er sich eine eigene kleine Firma aufgebaut. Herzukommen, war die richtige Entscheidung gewesen. Hierkonnte er genug Geld verdienen, um so zu leben, wie er es sich
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