Julias Geheimnis
wünschte, und er konnte auch malen, ohne dass ihm sein Vater im Nacken saß. Seit siebzehn Jahren lebte er jetzt hier. Er hatte in der Schule auf seiner Insel Englisch gelernt und sprach es nach so langer Zeit in England inzwischen fließend. Andrés sah zu, wie die Wellen an den Strand schlugen und die kleinen Kieselsteine umflossen, aus denen Chesil Beach bestand. Der Strand war viele Meilen lang und erstreckte sich von Weymouth bis nach Lime Regis. Heute barg England für ihn nur noch wenige Überraschungen. Es war für ihn zu einer zweiten Heimat geworden.
In seiner Kindheit hatte sich alles ums Malen gedreht. An etwas anderes konnte er sich praktisch nicht erinnern. Nicht nur das Atelier seines Vaters war voll mit Leinwänden gewesen; sie hatten auch überall in allen anderen Räumen des Steinhauses auf der Insel herumgestanden. Etwas anderes als das Malen gab es praktisch nicht. Und heute … Andrés hatte heute früher mit der Arbeit Schluss gemacht, denn er hatte noch etwas vor. Er wollte ein paar erste Skizzen für ein großes Meerespanorama, das er malen wollte, anfertigen. Die Künstlergruppe, der er angehörte, plante für den Spätsommer eine Ausstellung, und er wollte bis dahin so viele Bilder wie möglich fertig haben. Die Künstler arbeiteten alle in den Barn-Ateliers in Pride Bay, wo auch Andrés einen kleinen Arbeitsraum hatte.
Anders als sein Vater musste Andrés seine Kunst mit seiner anderen Arbeit vereinbaren. Er malte abends, wenn er nicht zu müde war, und am Wochenende. Sein Vater dagegen … Andrés zog Skizzenblock und Bleistift hervor. Er hasste es, an ihn zu denken, und doch ging er ihm nie ganz aus dem Kopf.
Als Andrés ein Junge war, pflegte sein Vater nachmittagszum Dominospielen in die Acorralado-Bar zu gehen. Das war seine Zerstreuung von der Arbeit. Und kaum dass er weg war, schlich Andrés die Steintreppe zum Allerheiligsten seines Vaters hinauf, sog den vielschichtigen, trockenen Geruch von Terpentin und unbenutztem Papier ein, berührte die steifen, neuen Leinwände und Pappen, die aufrecht in dem offenen Regal standen, und spähte unter staubige Laken und Tücher, mit denen hölzerne Staffeleien verhängt waren. Und er träumte.
Es waren die Farben. Andrés ließ die Farben, die ihn umgaben, auf sich wirken. So unähnlich waren sie einander nicht. Englische Farben waren normalerweise gedämpft und graustichig. Aber hier am Hide Beach leuchteten sie auch. Da waren die hohen Klippen, die aussahen, als bestünden sie aus honigfarbenen, übereinandergeschichteten Backsteinen. Da war aber auch Chesil Beach selbst, der sich aufbäumte und an der Küste entlangfloss wie eine goldene Löwenmähne. Und die Felder leuchteten erbsengrün – das musste an dem vielen englischen Regen liegen. Auch die Insel strahlte in kräftigen Farben, besonders das Meer. Die See konnte ein wunderschönes Türkis oder ein hartes Dunkelblau zeigen. Sie konnte saphirblau oder tintenschwarz sein. Solche Farben hatte er seitdem nie wieder gesehen.
Im Atelier seines Vaters war alles mit Farbe bespritzt – das Papier, die Pappe und die Leinwände. Es gab dicke Tropfen auf den einst weißen Bodenfliesen und Sommersprossen in allen Regenbogenfarben an den hellen Wänden. Wie Tränen rann die Farbe aus den Tuben, strömte davon und vermischte sich – außer Kontrolle und doch unter seiner Herrschaft, wie sie alle. Enrique Marín war ein Mann, dem man nicht widersprach.
Beinahe unbewusst begann Andrés, sich auf die Umrisse zu konzentrieren, die er seinem Bild geben wollte. In diesem frühen Stadium kritzelte er eigentlich nur herum, weil er noch nicht genau wusste, was er aufnehmen wollte. Er begann mit den Klippen; sie würden den Rahmen bilden. Er liebte es, wie sich der Weg auf den Gipfel zuschlängelte, er liebte den grasbewachsenen Kamm voller Wildblumen, und er liebte die konkave Linie der sandigen Kante, die im Lauf der Jahre erodiert war und nach und nach abbröckelte und im Meer versank.
Andrés’ Familie war wohlhabender als die meisten anderen Familien auf der Insel. Sein Vater und dessen Vater vor ihm hatten auf dem kleinen Landstück, das die aus Stein errichtete casa mit ihren postigos – den kleinen Fensterläden aus Holz – umgab, Schafe und Ziegen gehalten, und sie bauten Kaktusfeigen an, um an Cochenille-Schildläuse zu kommen. Aber das Herz seines Vaters hatte nie an der Landwirtschaft oder an der Tierzucht gehangen. Er hatte immer anderes im Kopf gehabt.
Kaum
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