Julias Geheimnis
dass sich Enrique Maríns Arbeiten verkauften, hatte er das Land an seinen Nachbarn losgeschlagen und nur zwei Ziegen und einen Gemüsegarten behalten, um den sich Andrés’ Mutter kümmerte. Manchmal, wenn sich die Bilder seines Vaters nicht so gut verkauften, lebten sie allein davon.
Die Römer hatten die Kanaren die »Inseln der Glückseligen« genannt; das hatte Andrés in der Schule gelernt. Aber nicht jeder war hier glücklich. Das Glück war in Gefahr, wenn man sich entschied, seine Meinung zu sagen, ein Geheimnis nicht zu bewahren, oder sich weigerte, so zu tun, als ob.
Auf dem Papier markierte Andrés grob, wo das Meer sein und wo der Horizont verlaufen würde. Er sah sich selbst, wie er mit vier oder fünf Jahren den Kopf durch die Tür zum Atelier seines Vaters steckte.
»Andrés! Hinaus! Hacia fuera! « Sein Vater trug sein weites, hellblaues Baumwollhemd und mit Farbe bespritzte Shorts. Er brüllte ihn an und fuchtelte mit seinem Pinsel in der Luft herum. In der anderen Hand hielt er seinen üblichen Stumpen. Ohne zu rauchen, konnte er weder malen, laufen oder denken. Er zog daran, hustete, schnippte die Asche in die ungefähre Richtung des Aschenbechers und verfehlte ihn wie immer. Er ging leicht gebeugt, mit hochgezogenen Schultern. Sein widerspenstiges dunkles Haar wurde von einem purpurroten Band aus dem Gesicht gehalten, und er sah damit aus wie ein Indianer. Er tobte vor Wut. »Ich kann nicht arbeiten, wenn ich ständig gestört werde!« Schnippen, Fuchteln, Asche. »Reyna!«
Seine Stimme klang immer noch in Andrés’ Ohren.
Dann kam seine Mutter, Reyna, angelaufen, und Andrés huschte mit gesenktem Kopf davon wie eine langbeinige Küchenschabe.
»Mach dir nichts daraus, mein Sohn«, pflegte seine Mutter zu sagen. Sie strich sich das rabenschwarze Haar zurück und band ihre Schürze neu. »Du kannst hier bei mir in der Küche arbeiten.«
Eines Tages band sie sich die Schürze ab, trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging hinauf ins Atelier.
Andrés hörte Stimmen seiner Eltern an- und abschwellen und dann verstummen. Damals durfte sie das Atelier noch betreten. Seine Mutter kam kopfschüttelnd und mit der Zunge schnalzend zurück. Sie brachte eine alte Palette,ein paar Bogen aussortiertes dickes Papier und einen ausgefransten Pinsel mit. Andrés’ Miene hellte sich auf. Arbeiten, hatte sie gesagt. Arbeiten. Das gefiel Andrés. Es schien ihn auf das Niveau seines Vaters zu heben, und gab ihm ein Ziel. Er würde malen.
Und so arbeitete Andrés, während seine kleine Schwester in ihrem Körbchen an der offenen Tür schlief, während der Wind vom Meer sanft den Türvorhang aus Bambusstäbchen bewegte und seine Mutter die Hausarbeit machte.
Er malte. Er malte das Obst, das seine Mutter in die grob gefertigte Tonschale legte: pockennarbige Orangen und kanarische Bananen, die klein, süß und gelb waren. Er malte seine tüchtige, betriebsame Mutter mit hochgerollten Ärmeln und ihrer Schürze, die flink und mit gekonnten Handgriffen eine ropa vieja – einen Reste-Eintopf aus Fleisch und Kartoffeln, Papageifisch oder Tintenfisch – zubereitete. »Hör nicht auf deinen Vater. Er ist, wie er ist. Mach einfach weiter.«
Auf einem anderen Blatt zeichnete Andrés das rote Fischerboot, das am Hide Beach an Land kam. Auch die Fischer und ihre Zelte hielt er fest. Sie würden einen schönen Farbklecks auf seinem Gemälde abgeben. Er würde sie rot malen, beschloss er, passend zum Fischerboot und als Kontrast zu den Blautönen des Meeres und den gelbgoldenen Kieseln. Rot war eine gute Wahl.
Sein Vater lebte immer noch in dem Dorf seiner Kindheit, in dem Andrés seit Jahren nicht gewesen war, und malte auch noch. Auf Fuerteventura liebte man Enrique Marín für seine Kreativität und sein Flair. Es hieß, er habe den Ort mit seinen Skulpturen, seiner Kunst und seiner Vision verwandelt. Seinetwegen kamen andere Künstler und schufen noch mehr schöne Gegenstände. Seinetwegen kamen auch mehr Touristen, gaben Geld aus und machten die Insel reicher. Seinetwegen gab es Galerien, Ausstellungen und Stipendien. Er wurde fast wie ein Gott verehrt.
Sein Vater war jetzt wohlhabend. Die ersten großen Erfolge hatte er zu Beginn des neuen Jahrtausends gefeiert. Andrés hatte davon gelesen. Bist du jetzt zufrieden? , hatte er gedacht. Seitdem war Enrique Marín sogar international bekannt geworden – ein Künstler und Bildhauer, der es geschafft hatte und kleine Menschenmengen in
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