Julias Geheimnis
Ausstellungen und Galerien zog. Er war nun sehr gefragt und in der beneidenswerten Position, nur ausgewählte Aufträge anzunehmen. Seine Eltern besaßen heute weitere Häuser – eines im Süden der Insel und eines in der Hauptstadt Puerto del Rosario. Aber sie hatten das Haus in Ricoroque behalten, und Andrés vermutete, dass sie immer noch den größten Teil der Zeit dort wohnten. Das war ihr Dorf und Enriques Landschaft – die Landschaft, die er liebte und die ihm den Erfolg geschenkt hatte, nach dem er so begierig war.
Er ist, wie er ist . Andrés hatte die Worte seiner Mutter nie hinterfragt. Damals nicht. Aber wusste sie, wie ihr Mann war? Chofalmeja . Jemand, dem man nicht vertrauen konnte. Wusste sie es wirklich?
Als Andrés damals in der Küche die Motive ausgingen, nahm er Zuflucht zu seinem inneren Auge und malte zum ersten Mal das Meer. Er malte wilde Wellen, die am alten Hafen auf die wie dicke Robben geformten Felsen krachten, kräftige Brecher, die in der Brandung an der Playa del Castillo ausliefen, oder türkisfarben leuchtendes Wasser, das sanft die sandige Lagune der Bucht umspielte. Jede Ebbe oder Flut war ein Gegensatz. Jede Ebbe oder Flut brachte etwas Neues. Er malte das Meer in Grün, Blau, Weiß und jeder Schattierungdazwischen. Er malte es still, und er malte es in Bewegung. Er malte es ruhig, und er malte es, wenn es tobte. Mit Menschen und Schiffen oder nur das Wasser. Und nach und nach, im Lauf von Wochen, Monaten, Jahren, lernte er, seine Farben, Stimmungen und Energien einzufangen. Er war in der Lage, die Bewegung der Brandung und der Wellen darzustellen, ihr Heben und Senken, ihr Kräuseln und Glitzern.
Bis es sogar seinem Vater auffiel.
Sein Vater begann ihm zuzuschauen, wenn Andrés am Nachmittag nach der Schule zu Hause malte. Mit seiner Zigarre, die er in den nikotinfleckigen Fingern hielt, wies er auf die Bilder und gab knappe Bemerkungen von sich: »Mehr Weiß hier.« Oder: »Falsche Perspektive. Benutz deine Augen. Gott hat dir extra zwei davon gegeben.« Manchmal nickte sein Vater nur. Bei anderen Gelegenheiten trat er ans Fenster und sah hinaus, und Andrés’ Mutter ging dann zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Enrique …«
Eines Samstags arbeitete Andrés an einem besonders anspruchsvollen Bild. Seine Freunde spielten draußen Fußball, aber er war zu sehr in sein Werk vertieft, um zu ihnen zu gehen. Mañana . Morgen. Zeit bedeutete ihm damals wenig; es war immer genug davon da. Er malte ein Fischerboot im neuen Hafen, das rot, grün und blau gestrichen war. Es trug ein schwarzes Wappen und den Namen Halcón , Falke. Auf dem Emblem war ein solcher Greifvogel abgebildet, der vollkommen konzentriert – von den ausgestreckten Klauen bis zu dem grausam gebogenen Schnabel und dem harten Blick – auf seine Beute herabstieß. Neben dem Boot malte Andrés ein Netz mit silbrig glitzernden Fischen, und daneben stand ein alter Fischer mit wettergegerbter Haut. Vielleicht war es Guillermo, denn er trug wie er einen blauenOverall und Bootsschuhe aus Stoff. In der Ferne war das Meer aufgewühlt. Die Wellen schlugen an den Fuß der alten Leuchtturmanlage El Tostón, und die Gischt zerstob im Wind zu tausend Tröpfchen.
Sein Vater stapfte vorbei, um sich die Tasse Kaffee zu holen, die Mama ihm gekocht hatte. Er zündete sich einen neuen Stumpen an und murmelte etwas, das Andrés nicht verstand.
Andrés zögerte. Seine Hand mit dem Pinsel verharrte über den Fischen. Er wartete auf die Kritik. Zu viele Fische, das Meer ist zu ruhig, Fehler beim Hautton.
Doch sein Vater schwieg.
Andrés sah auf. Sein Vater rieb sich das stopplige Kinn. Seine dunklen Augen schauten ausdruckslos drein. Er wirkte zornig. »Was?«, flüsterte Andrés. Was war so schlecht?
Sein Vater wandte sich an seine Mutter. »Der Junge kann malen«, erklärte er. Und dann stapfte er zurück in sein Atelier.
Nur diese Worte. Der Junge kann malen . Aber er war geblendet von diesen Worten. Sie krochen sich in seine Seele und explodierten dort wie ein Feuerwerk aus Funken reiner Freude. Er hatte das Gefühl, endlich anerkannt worden zu sein. Zum ersten Mal wusste Andrés, was er war, wer er war. Der Sohn seines Vaters. Ein Künstler. Malen würde sein Leben sein.
Aber er hatte sich geirrt. Er war ein Narr gewesen, ein Idiot. Zurriago . Schwachkopf.
Andrés ärgerte sich über sich selbst. Er stopfte seine Sachen wieder in die Stofftasche zu seinen Füßen. Es reichte für
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