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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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heute. Er war zu unkonzentriert. Wie immer hatte er zugelassen, dass Enrique Marín ihm zusetzte. Doch wenn esAndrés nicht gelang, seine Familie aus seinem Kopf zu verbannen   – seine Mutter, seine Schwester, seinen Vater, dem er niemals gut genug sein würde   –, dann konnte er nicht arbeiten. Er musste erst all diese Gedanken abschütteln, bevor er weitermachen konnte.
    Denn Enrique Marín hatte seinen Sohn nicht in sein Atelier aufgenommen und zum Malen ermuntert. Der große Meister hatte keine weisen Worte oder Tipps an ihn weitergegeben. Oh nein. Ganz im Gegenteil. Es hatte seinen Vater immer mehr erzürnt, dass Andrés in seine Fußstapfen trat   – dass er es wagte, mit ihm zu konkurrieren, dabei war er es kaum wert, auch nur im selben Haus zu leben wie der große Mann. Sein eigener Sohn   …
    »Hast du nichts Besseres zu tun, Junge?«, schrie er, wenn er ihn bei der konzentrierten Arbeit an einer Zeichnung antraf. »Was glaubst du, wer du bist? Denkst du, die Welt will sehen, was du machst? Schau es dir doch an!« Und er kam herübergestampft und fuchtelte mit dem Finger oder dem Stumpen über seinem Bild herum, kritisierte, verhöhnte es und zerriss seine Arbeit   – manchmal sogar buchstäblich. Dann lief Andrés weg, denn er hatte Tränen in den Augen und war nicht in der Lage, seinem Vater die Stirn zu bieten. Das konnten sie alle nicht. Warum hasste sein Vater ihn so? Was hatte er getan? Warum würde für den Mann, den Andrés so bewunderte, nie etwas gut genug sein?
    Jedenfalls hatte er ihn früher bewundert. Heute wusste er es besser. Seit siebzehn Jahren wusste er, dass es an einem Mann wie ihm nichts zu bewundern gab.
    Aber damals   … Es bedeutete nichts, dass seine Mutter und seine Schwester ihn in seiner Malerei unterstützt hatten. Was wussten die beiden schon? Es hieß gar nichts, dasssein Kunstlehrer in der Schule sagte: »Wir sehen alle, wessen Sohn du bist, Andrés.« All das bedeutete nichts. Denn die eine Stimme, auf die es ankam, war immer gegen ihn erhoben.
    Die Frau fiel Andrés zuerst auf, als sie oben auf dem Klippenpfad auftauchte, der zum Hide Beach führte. Sie schritt zielbewusst voran. Das kurze blonde Haar wurde vom Wind zurückgeweht. Sie hatte die Schultern hochgezogen und die Hände in den Jackentaschen vergraben. Er bemerkte sie, weil sie allein war, was ungewöhnlich war. Die meisten Leute hatten wenigstens einen Hund bei sich. Außerdem hatte er das Gefühl, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
    Seit er seine Inselheimat verlassen hatte, seit dem Tag, an dem er getan hatte, was er nie geglaubt hatte, tun zu können, war Andrés in Kontakt mit seiner Mutter und seiner Schwester geblieben. Doch er wusste, dass sie Enrique Marín nichts davon verrieten.
    »Tritt nie wieder über diese Schwelle«, hatte Enrique Marín zu seinem Sohn gesagt und ihn aus seinen schwarzen Augen wütend angestarrt. »Wage es nicht, zurückzukommen.« Das ließ nicht viel Verhandlungsspielraum. Außerdem war Andrés viel zu stolz. Jedes Mal, wenn er an die Insel und seine Familie dachte, rief er sich diese Worte ins Gedächtnis. Nie würde er an einen Ort zurückkehren, an dem er so verhasst war. Und doch hatte er es tun müssen, oder? Wie hätte er es nicht tun können? Was war ihm anderes übrig geblieben?
    Andrés sprach regelmäßig mit seiner Mutter. Wenn Enrique nicht da war, wählte sie seine Nummer. Sie ließ es erst zwei Mal klingeln, anschließend vier Mal. Dann rief Andrés sie zurück. Sie wollten nicht riskieren, dass die Telefonrechnungen Andrés’ Vater verrieten, dass sie noch in Verbindung standen. Andrés hielt sie über die Einzelheiten aus seinem Leben auf dem Laufenden und erzählte ihr kleine Anekdoten über seine Kunden. Er erzählte ihr zum Beispiel von Mrs. Emily Jones, bei der er die Decken in Schlaf- und Wohnzimmer in Apricot und Weiß gestrichen hatte und die ihren Pudel herausputzte und ihm Locken drehte, bevor sie nachmittags mit ihm an der Promenade spazieren ging. Oder von dem alten Ian Hangleton   – Hausfassade in gebrochenem Weiß und ein paar defekte Dachpfannen –, der durch seine Gardinen auf die Straße hinaussah, um den neuesten Klatsch aufzuschnappen, sein Geld unter den Bodendielen im Schlafzimmer aufbewahrte und ein geladenes Gewehr am Bett stehen hatte. Nur für alle Fälle   … Er erzählte alles, was seiner Mutter vielleicht ein Lächeln entlocken konnte. Er stellte sich die beiden vor   – Mama und Isabella   –, wie sie

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