Julias Geheimnis
Und Julia wusste warum, weil sie es von ihrem Vater gehört hatte. Barcelona wird für das, was sie seine republikanischen Sünden nennen, bombardiert . Die Nationalisten hatten zurückgeschlagen.
Die ganze Familie stand unter Schock. Doch das war erst der Anfang.
Zu Beginn des nächsten Jahres rückten Francos Truppen ein, und während die faschistischen Soldaten durch die Straßen der Stadt paradierten, versteckten sich die Bewohner der Stadt ängstlich in ihren Häusern.
»Lieber Gott, rette uns, rette uns«, flehte Paloma. Selbst siehatte zu große Angst, um hinauszugehen und sich die Parade anzusehen.
Julias Mutter weinte, und ihr Vater hielt ihre Hand und tröstete sie. »Keine Angst, meine Liebste«, sagte er zu ihr. »Wenigstens sind wir verschont geblieben.«
»Aber wozu?«, rief Julias Mutter. »Was soll jetzt aus uns werden? Werden wir je wieder sicher sein?«
Darauf wusste Julias Vater keine Antwort.
Aber wie alle anderen achtete er nach der Einnahme der Stadt darauf, seine Verbindungen zu den Menschen zu kappen, die jetzt die falschen Bekannten waren, Leute, auf deren Seite zu stehen, gefährlich geworden war. Julia begriff, warum das notwendig war. Die Bewohner der Stadt huschten mit gesenkten Köpfen und gesenktem Blick durch die Straßen. Und wer die falschen politischen Verbindungen hatte, verließ Barcelona, und zwar schnell.
Im März fiel Madrid, und dann Valencia.
»Es ist vorbei«, sagte Julias Vater. » Dulce Jesús !« Er fluchte, aber nicht vor Zorn, sondern weil er sich geschlagen fühlte.
Er behielt recht. Am 1. April kapitulierten die letzten republikanischen Kräfte, und der Sieg der Nationalisten wurde ausgerufen.
Ein paar Wochen, nachdem sie die Siegeszeremonie im Radio verfolgt hatten, hörte Julia nachts wieder einmal die erregten Stimmen ihrer Eltern. Sie lag schon im Bett, und die Glocken der Kathedrale schlugen Mitternacht. Sie zog ihren Morgenmantel an und hockte sich auf die Treppe, um zu lauschen. Was sie hörte, machte ihr Angst. Die Worte sprudelten aus ihrem Vater nur so hervor, wie Lava aus einem Vulkan. Es war, als müsse er reden oder den Verstand verlieren. Er sprach von politischen Militanten und einer »bolschewistischen Unterwanderung«. Er sprach von den Verrückten, den Landstreichern und den Bettlern, die in den Toreinfahrten der Calle Fernando schliefen und all ihre weltliche Habe in einem Bündel aufbewahrten. Er sprach von den Gefangenenlagern wie jenem auf der Festung Montjuïc und den ständigen Hinrichtungen dort. Und er sprach von denen, die gefoltert worden waren, aber überlebt hatte und nun mit den Narben leben mussten. Er wurde geradezu panisch, und seine Stimme wurde immer lauter, bevor sie dann jäh verstummte. Ihre Mutter versuchte, ihn zu beruhigen. Julia hörte ihre Stimme und stellte sich vor, wie sie ihm das Haar aus dem Gesicht strich und ihn an sich zog, um ihn zu trösten.
Seufzend ging sie wieder zu Bett. Seit dem Krieg war nichts mehr so wie früher. Wie hätte es das auch sein können? Spaniens Wirtschaft lag am Boden. Brücken, Eisenbahnen, Straßen, alles war zerstört. Überall herrschte Chaos. Aber das war noch nicht alles, was ihr Angst machte. Denn nach dem, was sie letzte Nacht gehört hatte, fürchtete Julia um die geistige Gesundheit ihres Vaters.
An diesem Abend hatte es reichlich zu essen gegeben, aber dennoch war die Stimmung beim Essen alles andere als fröhlich.
»Wo hast du das Essen her?«, hatte ihre Mutter von Papa wissen wollen.
»Ich habe es verdient«, gab er mit trotzigem Blick zurück.
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Das Chaos nach dem Ende des Krieges hatte auch die Korruption mit sich gebracht, und der Schwarzmarkt blühte. Bohnen, Fleisch, Olivenöl, Mehl – all das war schwer aufzutreiben und kostetein Wahrheit viel mehr, als die offiziell festgelegten Preise behaupteten.
Hatte Papa sich das Essen verdient? Was genau hatte er dafür getan? Julia hatte gesehen, wie schwer er sich tat, Arbeit zu finden, trotz der Zerstörung, die sie umgab und obwohl ein Wiederaufbau dringend notwendig war. Aus dem, was sie belauscht hatte, wusste sie, für wen er gearbeitet hatte und dass die Leute aufpassten, wen sie anstellten. Mochte Gott geben, dass man ihn nicht für einen ehemaligen Sympathisanten der Linken hielt.
»Wir wissen ja alle«, hatte sie ihn sagen hören, »was aus ihnen wird.«
Am nächsten Abend gab es fast nichts zu essen. Mama kochte ein wenig Reis und ein paar Bohnen. Sie musste sehr
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