Julias Geheimnis
an ihren Vater. »Was hältst du von dem neuen Regime, Papa?«, fragte sie. »Wird jetzt alles anders, nachdem der General den Krieg gewonnen hat? Bekommen wir mehr zu essen? Wirst du wieder mehr Arbeit finden? Wird sich alles beruhigen?«
»Du bist noch so jung, Julia«, sagte Mama. »Zu jung, um dir Gedanken über so etwas zu machen.«
»Bete zu Gott, dass sie sich nie Sorgen um so etwas machen muss«, sagte ihr Vater. »Bete zu Gott, dass sie nie wieder hungern muss.«
Julia hörte die tiefe Niedergeschlagenheit in seiner Stimme. Aber Paloma und sogar Matilde konnten nicht genug von der Radioübertragung bekommen. »Wenn wir nur dabei sein könnten«, meinte Paloma mit einem tiefen Seufzer. »Ein solches Schauspiel mitzuerleben …«
»Gott sieht sie«, murmelte ihr Vater. »Cielos santos.« Heiliger Himmel. Er fluchte leise und schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass sie das schaffen. So etwas hätte ich mir nicht träumen lassen.«
Ja. Julia verstand, was er meinte. Er hatte schließlich geglaubt, dass die Republikaner gewinnen würden. Sie alle hatten das.
Es hatte in der Tat so ausgesehen, als würden sie siegen. 1937 war der Straßenkampf größtenteils vorüber gewesen, und die Republikaner hatten ihre Stadt beherrscht. Damals war Julia erst vierzehn gewesen. Sie hatte sich schnell an die Veränderungen gewöhnt, obwohl ihr zu Beginn manches seltsam vorkam.
»Wir dürfen nicht mehr › señor ‹ oder › don ‹ sagen«, hatte ihr Vater ihnen erklärt. »Das wird als unterwürfig betrachtet.«
Julia war verwirrt – sie hatte es für gute Manieren gehalten. »Was sollen wir denn sonst sagen, Papa?«, fragte sie.
»Genosse«, antwortete er. »Das ist die korrekte Anrede.«
Daraufhin begannen Julia und ihre Schwestern das Wortbei jeder Gelegenheit zu gebrauchen; es wurde fast ein Spiel. »Guten Morgen, Genossin«, begrüßten sie sich am Morgen. »Gute Nacht, Genossin«, sagten sie, wenn sie ins Bett gingen.
Ihre Eltern schien das nicht zu stören. Aber was dachten sie wirklich? Sogar damals schon hatte Julia manchmal oben an der Treppe gesessen, wenn sie eigentlich schon im Bett sein sollte, und ihre spätabendlichen Gespräche belauscht. Dabei fand sie es heraus. Sie bewunderten dieses Streben nach Gerechtigkeit. Sie hatten das Gefühl, dass diese neue Ordnung notwendig war, um der Gefahr einer Diktatur zu entrinnen. Sie hegten große Hoffnungen für ein neues, blühendes republikanisches Spanien. Ob es dazu kommen würde? Vielleicht – denn es gab auch andere Veränderungen. Aus Firmen wurden Kollektive, private Automobile wurden requiriert, und die Arbeiter waren an der Macht.
Julia und die meisten jungen Leute, die sie kannte, fanden das gar nicht so übel. Warum sollte keine Gleichheit herrschen? Wieso sollte sich das Althergebrachte nicht verändern? Es kam ihr rebellisch, gewagt und aufregend vor. Staunend beobachtete Julia, wie sich ihre Stadt verwandelte. Gebäude waren mit roten und schwarzen Fahnen geschmückt, und auf zahlreiche Häuserwände hatte man Hammer und Sichel gemalt. Sogar Straßenbahnen und Taxis waren schwarzrot lackiert. An Straßenecken klebten revolutionäre Plakate, und aus den Lautsprechern auf den Ramblas dröhnten Tag und Nacht die Revolutionslieder.
Auch Paloma hatte die Aufregung gefallen, und sie hatte in die Hände geklatscht. »Da bekomme ich Lust zum Tanzen«, hatte sie lachend gemeint.
Julia hatte mit ihr gelacht. Ob die Republikaner etwas gegen das Tanzen haben würden? Wahrscheinlich. Sie schienen nicht besonders oft zu lächeln.
»Das Wichtigste«, hatte Papa ihnen erklärt, »ist, dass es für alle genug zu essen gibt. Niemand wird hungern.« Und so kam es. Julias Eltern hatten beide Arbeit, ihr Vater auf dem Bau und ihre Mutter als Grundschullehrerin. Und wenn Julia in die Gesichter der Menschen auf den Straßen schaute, sah sie etwas noch Besseres in ihnen: Glaube an die Zukunft, Hoffnung.
Aber es hatte nicht lange gedauert. Im Winter 1938 war Barcelona schwer bombardiert worden.
»Warum greifen sie uns an?«, jammerte Paloma, als die Schwestern sich spätnachts in Matildes Bett aneinanderklammerten. »Was haben wir nur getan?«
»Nichts«, beruhigte Matilde sie. »Wir haben gar nichts getan.«
In ihrer Straße waren drei Häuser getroffen worden. Zwei von Julias Freundinnen und ihre Familien waren umgekommen. Auch viele andere wurden getötet oder verletzt, zahlreiche Gebäude wurden zerstört. Die Stadt war in Aufruhr.
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