Julias Geheimnis
Babymützchen und einem Plektrum aufbewahrten? Wer wusste von ihrer Unfruchtbarkeit? Wer konnte wissen, woher Ruby kam und warum ihre Eltern ihr nie die Wahrheit gesagt hatten?
Die Einzige, die ihr einfiel, war Frances.
8. Kapitel
BARCELONA, MAI 1939
J ulia war gerade sechzehn geworden. Der Bürgerkrieg war zu Ende, und ihre Familie drängte sich um das Radio und lauschte der Übertragung von Francos großer Siegesparade, die in Madrid auf der Castellana stattfand. Die Straße war inzwischen allerdings in Avenida del Generalísimo umbenannt worden.
»Sie haben keine Zeit dabei vergeudet, den Namen zu ändern«, meinte ihr Vater düster.
»Geld verschwenden sie allerdings jede Menge, so pompös wie diese ganzen Feierlichkeiten sind«, setzte ihre Mutter hinzu.
Julia sah, wie ihre Eltern einen verschwörerischen Blick wechselten. Es stimmte, es klang, als hätte man bei der Parade an nichts gespart. Aber Mama und Papa passten normalerweise auf, was sie sagten, sogar vor der eigenen Familie. Das mussten sie, denn überall gab es Spitzel, die sich bei den Obrigkeiten lieb Kind machen wollten und bereit waren, ihre eigenen Leute zu verraten.
Die drei Mädchen beugten sich vor, um zuzuhören. Julia sah die Aufregung in Palomas dunklen Augen und grinste. Ihre Aufregung war ansteckend. Jetzt würde bestimmt alles anders werden, schien Palomas Blick zu sagen. Dies war gewiss ein Neuanfang – für sie, für die jungen Leute, die neue Generation Spaniens.
Doch Julia war sich da nicht so sicher. Was wusste ihre Schwester schon über Politik und Wirtschaft? Für diese Themen hatte sich Paloma nie interessiert. Julia war jünger, aber sie wusste mehr als Paloma. Sie hörte zu und sie beobachtete. Obwohl sie sich im Schatten hielt, hörte sie alles.
Der Sprecher beschrieb General Franco und seine Kleidung.
Julias Mutter schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Wen interessiert das schon?«, murrte sie.
»Pssst«, sagte ihr Vater zu ihr. » Du solltest dich dafür interessieren, Liebling.«
Die Mädchen dagegen lauschten gebannt auf jede Einzelheit. Unter der Uniform des Generalobersts, so hörten sie, trug Franco das dunkelblaue Hemd der Falangisten und dazu ein rotes Barett.
»Alles nur, um Eindruck zu machen«, meinte Julias Vater. »Alles Schau.«
Bei der Parade marschierten 120 000 Soldaten. »Einhundertzwanzigtausend«, hauchte Matilde. »Stellt euch das vor.«
Julia war dazu nicht in der Lage; Paloma sah allerdings aus, als könne sie es. Sie sah aus, als sehne sie sich danach, dort zu sein. Bewundert zu werden, dachte Julia.
Am Himmel, berichtete der Sprecher, schrieben Flugzeuge die Worte » VIVA FRANCO «.
»Toll!«, sagte Paloma. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Julia wusste, was sie dachte; sie kannte sie so gut. Schließlich hatte sie schon ihr ganzes Leben lang dem munteren, oberflächlichen Geplapper ihrer Schwester zugehört. Jetzt wird alles anders, und ich bekomme meine Chance. Ich werde einen Mann finden, der mich liebt .
»Hättest du gern, dass einer dieser Soldaten sich in dichverguckt?«, neckte Julia sie. Die Familie hatte es in den letzten Jahren schwer gehabt. Paloma wünschte sich einen Mann, der sie versorgte. Es verdross sie mehr als alle anderen Familienmitglieder, dass sie kein Geld hatten, um es für Kleider und anderen Flitterkram auszugeben.
Sie warf den dunklen Schopf nach hinten. »Und wenn?«, gab sie zurück.
Julia zuckte die Achseln. »Es gibt noch andere Dinge im Leben.« Sie fing den Blick ihres Vaters auf, der sie nachdenklich ansah.
Paloma schnaubte empört. »Bei dir ist das etwas anderes, Julia«, sagte sie.
»Ach ja? Und wieso?«
»Du bist so ernst.«
»Kann schon sein.« Julia wandte sich vom Radio ab, um sich die Welt anzusehen, die sich ihr durch das Fenster darbot. Es war eine Welt, in der sich alles verändert hatte. Es stimmte, sie war ernster. Aber was war verkehrt daran? Sie war nicht auf der Suche nach einem Mann, noch nicht. Julia dachte an die Vamos-Jungen, die nebenan wohnten, an Mario, den sie oft dabei ertappte, wie er sie aus zusammengezogenen Augen und mit grüblerischer Miene ansah. Er war aufsässig, und sie traute ihm nicht. Außerdem hatte sie über Wichtigeres nachzudenken. Sie wollte etwas über die Welt lernen, darüber, was mit ihnen geschah. Deswegen belauschte sie die geflüsterten Gespräche zwischen Papa und Mama und stand in den Schatten der Cafés in der Stadt, wo die Leute über so etwas diskutierten.
Jetzt wandte sie sich
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