Julias Geheimnis
sparsam sein, weil sie nie wusste, woher sie die nächste Mahlzeit nehmen sollte. An manchen Tagen – zu oft – ging ihre Familie hungrig zu Bett.
Als Papa nach Hause kam, war er vollkommen außer sich.
»Tomás? Was ist los?«, fragte Julias Mutter.
Er blickte sich hektisch um. Wieder stand in seinem Blick dieser merkwürdige, fast wahnsinnige Ausdruck, bei dem es Julia kalt über den Rücken lief. »Fast die Hälfte aller Straßenbahnarbeiter hat ihre Stelle verloren.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«
Julias Mutter legte ihm begütigend eine Hand auf den Arm.
Er beruhigte sich ein wenig und starrte düster vor sich hin, als versuche er, das alles zu begreifen.
»Ich kann es kaum glauben«, meinte Julias Mutter. Auch sie hatte vor einiger Zeit ihre Arbeit verloren. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Wie alle Frauen musste sie jetzt zu Hause bleiben und ihrem Ehemann streng gehorchen,weil sein Wort Gesetz war. Aber was, wenn er Angst hatte oder durch all diese Ereignisse halb verrückt geworden war? Wenn er keine Arbeit fand und sie kein Geld mehr hatten? Was dann?
»Wer soll denn jetzt die Kinder unterrichten?«, hatte Julia gefragt. Einst, in einem anderen Leben, hatte sie selbst einmal Lehrerin werden wollen. Aber das würde jetzt nicht mehr möglich sein.
»Jemand, der die richtigen Ansichten hat und bisher das opportune Verhalten an den Tag gelegt hat«, hatte Mama ohne einen Anflug von Ironie in der Stimme erklärt.
Julia bemühte sich immer noch, das zu verstehen. Sie wusste, dass während des Bürgerkriegs Kirchen geschlossen und sogar geplündert worden waren. Und sie wusste, dass viele Menschen das nicht gewollt hatten. Aber was die Menschen heute dachten? Wie sollte man das noch wissen? Das Denken war ihnen buchstäblich verboten worden. Selbst ihre Gedanken wurden ihnen heute diktiert.
»Fast die Hälfte der Arbeiter!«, brüllte Papa wieder. »Das ist Wahnsinn!«
»Still, Tomás.« Erneut redete sie begütigend auf ihn ein. Julias Mutter konnte ihn immer beruhigen
Doch Julia wusste, dass ihre Eltern Angst hatten. Sie fürchtete sich ja auch. Alle hatten Angst.
»So können wir nicht weitermachen.« Er sah ihre Mutter durchdringend an, bis sie den Blick abwandte. Dann schaute er durchs Fenster hinaus in den trüben Schein der Straßenlaternen, der auf das nasse Pflaster vor der Puerta del Angel fiel. Sein Zorn war verflogen, und auch der wilde Blick war aus seinen Augen verschwunden. Doch was Julia jetzt darin sah, kam ihr schlimmer vor.
»Ich sage es euch«, erklärte er, »etwas muss sich ändern.«
Aber was? Eine Vorahnung ließ Julia erschauern, als sie an diesem Abend im Bett lag und die Stimmen ihrer Eltern hörte. Sie stritten sich über etwas – aber über was? Sie stand nicht auf, um zu lauschen. Einerseits wollte sie es wissen, andererseits hätte sie es nicht ertragen. Es klang schlimm. Aber konnte es noch schlimmer werden?
Am folgenden Abend nahmen ihre Eltern sie zur Seite.
»Julia«, sagte ihr Vater. »Du begreifst doch, wie es um uns steht?«
»Ja, Papa.«
Julia hätte sich am liebsten davongeschlichen. Sie wollte in einer Rauchwolke verschwinden oder aus dem Fenster fliegen, an einen sicheren, ruhigen Ort, an dem jeder das sein durfte, was er wollte. Was jetzt kam, wollte sie nicht hören.
»Wir müssen an dein Wohlergehen denken«, fuhr er fort.
Julia sah ihn blinzelnd an. Was war mit dem Wohlergehen der anderen Familienmitglieder? Sie war vielleicht nicht das Lieblingskind ihres Vaters – Paloma war immer diejenige, die seinen Arm nahm und ihn zum Lächeln brachte –, aber sie hatte immer gewusst, dass sie geliebt wurde.
»Und deswegen haben wir uns unterhalten, deine Mutter und ich.«
Julia sah ihre Mutter an. Ihre Augen waren gerötet. Sie vermutete, dass die beiden deswegen mitten in der Nacht gestritten hatten. Vielleicht hätte sie doch an der Treppe lauschen sollen. Dann wüsste sie jetzt, worum es ging, und wäre vielleicht in der Lage gewesen, sie umzustimmen.
»Ich habe Erkundigungen eingezogen.« Er räusperte sich.
»Worüber, Papa?«, wagte Julia zu fragen.
»Über eure Zukunft«, sagte er.
Dann waren Julias Befürchtungen also richtig gewesen. »Mama?« Sie griff nach der Hand ihrer Mutter.
»Still«, sagte sie. Doch Julia wusste, dass ihr Herz diese Entscheidung nicht mittrug. Sie war besiegt, geschlagen von ihrem eigenen Leben und dem, was daraus geworden war.
»Du wirst ins Kloster gehen«, erklärte ihr
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