Julias Geheimnis
Gläsern. Die Wände waren tiefblau gehalten.
Das Jazz-Café gehörte zum Kunstzentrum von Pridehaven; einem Art-déco-Gebäude, in dem Ausstellungen stattfanden und ein kleines Theater untergebracht war. Das Café im hinteren Teil des Zentrums spiegelte die geschwungene Form des Gebäudes wider: Der Raum war oval, und die Mahagonitheke folgte der Linie der Oberwand wie ein Arm, der sich tröstlich um eine Schulter legt.
»Hallo, Andrés.« Tina stand hinter der Theke und freute sich, ihn zu sehen. Sie beugte sich vor, um ihn einmal, zweimal auf die Wange zu küssen. Er versuchte, einen Hauch von ihrem Parfüm zu erhaschen, war aber zu langsam. »Ein Bier?«
»Bitte.«
Tina war brünett und hatte großzügige Kurven und ein schönes Gesicht. Andrés hatte sie schon bei mehreren Gelegenheiten gezeichnet. Er hatte sogar ein Bild von ihr gemalt, wie sie hinter der Bar stand: Sie hatte die Hand auf die Zapfanlage gelegt, während ihr Rücken von dem Spiegeldahinter reflektiert wurde. Er schmeichelte sich gern, dass es an die Cafébilder erinnerte, für die Manet eine Vorliebe gehabt hatte. Er bewunderte den großen Impressionisten. Nicht, dass er in diese schwindelnden Höhen gestrebt hätte, aber ihm gefiel die Idee des Malers als flaneur , der durchs Leben schlendert und seine Umwelt beobachtet. Dieses Bild würde er auf jeden Fall in die Ausstellung aufnehmen. Er erfreute sich am Schwung von Tinas Wimpern, als sie die Gästeschar in Augenschein nahm, dem Winkel, den ihre Wangenknochen bildeten, und ihrer Ausstrahlung, in der ein leiser Hauch von Arroganz lag. Tina arbeitete schon lange hier und war verantwortlich für die Jazzveranstaltung am Freitagabend.
Ein gut geschnittener Bob schwang vor und zurück, als sie sich bückte, um ein San Miguel aus dem Kühlschrank hinter sich zu nehmen. Andrés gefiel, was er sah.
»Geht’s dir gut?« Sie öffnete die Flasche. Tina fragte ihn immer, ob es ihm gut ging. Er wusste, dass sie sich um ihn sorgte.
»Prima, danke.« Er freute sich auf die Auktion nächste Woche. Er brauchte eine Abwechslung in seinem Leben – erzählte ihm das nicht auch Tina ständig? –, und er hoffte, dass die Renovierung des Küstenwachenhäuschens ihm diese Abwechslung bringen würde.
»Ja, klar.« Tina zog eine Augenbraue hoch. Sie trug ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt und Jeans, die so eng waren, dass sie nicht auch noch bequem sein konnten. Aber sie sah gut darin aus.
Andrés musste an ein Spinnennetz denken. Es war schön, es konnte einen stützen, und es war flexibel. Mit seinen klebrigen Fäden konnte es einen auffangen und verhindern,dass man fiel. Auf der anderen Seite konnte es einen einfangen und auffressen. Wenn man drin war, war man drin. Es gab kein Entkommen.
»Viel los bei euch heute Abend.« Andrés machte eine Kopfbewegung in den Raum. Das Lokal war halb voll, was für kurz nach acht ziemlich viel war. Um neun würde der Laden brummen. Manchmal war es gut, an einem Ort zu sein, an dem etwas los war. Es hielt einen vom Grübeln ab. Andrés hatte sich zwar an seine eigene Gesellschaft gewöhnt und daran, dass er den Abend meist an sich vorüberziehen ließ, wie ein Reisender, der beim Warten auf den Zug die Bahnhofsuhr beobachtet. Doch es gab auch Abende, an denen platzte sein Kopf fast vor Bildern von der Insel, von seinem Vater, seiner Mutter und seiner Schwester, und er musste sie irgendwie loswerden. Wenn in einem Lokal viel los war, konnte man in die Stimmung eintauchen, damit verschmelzen und sogar eine Weile das Gefühl haben, man gehöre dazu.
»Wir haben eine Band. Sie haben sich erst in letzter Minute angekündigt, aber wir haben ein Plakat aufgehängt.« Tina zuckte die Achseln. »Es hat sich herumgesprochen.« Sie nahm sein Geld entgegen und wandte sich der Kasse zu.
Dieses Mal fing er einen leisen Hauch von ihrem Parfum auf. Geranien. In Ricoroque pflanzten sie in den Kübeln vor der Haustür immer Geranien. Geranien wuchsen gut in dem picón , dem feinen Vulkanschotter der Kanaren, der den Tau einfing. Außerdem vertrugen sie Hitze. »Sind sie gut?«, erkundigte er sich.
»Ja, sie sind gut.« Sie gab ihm sein Wechselgeld zurück. »Früher haben sie jede Woche hier gespielt. Dann sind sie auseinandergegangen, weil …«
Doch Andrés erfuhr nicht mehr, warum sich die Band getrennt hatte, denn ein anderer Gast wollte einen Drink, und Tina tänzelte schon zum anderen Ende der Bar, um ihn zu bedienen.
Andrés winkte ihr nach und nahm sich einen
Weitere Kostenlose Bücher