Julias Geheimnis
Vater.
Ins Kloster? Sie sollte Nonne werden? Panisch wanderte Julias Blick zwischen ihren Eltern hin und her. »Ins Kloster?«, wiederholte sie.
Ihre Mutter drückte ihre Hand. »Dort bist du sicher, Julia«, sagte sie. »Du wirst genug zu essen haben …«
»Aber …« Sie hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Ihre Familie war nicht im Mindesten religiös. Ins Kloster? Von dieser Möglichkeit war noch nie die Rede gewesen.
»Es ist beschlossene Sache«, sagte ihr Vater. »Die Kirche wird für dich sorgen. Sie wird es müssen.«
»Papa?« Julia suchte in seinen Augen nach Mitgefühl, sah aber nur Verzweiflung. Sie hatte immer versucht, ihn zu verstehen, hatte ihn respektiert und ihm gehorcht. Aber das hier …
»Es ist der richtige Platz für dich.«
»Und Matilde?« Julia spürte, wie die Wut wie ein Feuer in ihr aufflammte. »Und Paloma?«
Ihre Mutter legte die Arme um sie. »Die beiden müssen auch Opfer bringen«, flüsterte sie. »Wir haben unser Bestes getan, Tochter. Mehr vermögen wir nicht.«
Opfer? Julia riss sich aus ihrer Umarmung los und rannte davon. Blindlings stürmte sie auf die Straße, ohne zu wissen, wohin sie wollte. Sie wollte nur fort, fliehen. Tränen strömten über ihr Gesicht, ihr Haar war aufgelöst und wehte im Herbstwind. Was für Opfer würden ihre Schwestern schonbringen müssen? Sie waren hübsch. Wie schwer konnte es schon sein, in der Nachkriegszeit ein hübsches Mädchen zu verheiraten, wenn man dabei nicht allzu wählerisch war? Bei Julia war das etwas anderes. Sie war die unscheinbare Schwester, die stille, die passive, der man immer sagen konnte, was sie tun und wohin sie gehen sollte.
Einen flüchtigen Moment dachte sie an Mario Vamos und den Blick seiner schwarzen Augen. Sie hatte ihren Eltern die Entscheidung leicht gemacht. Sie hatten alle eine gute Bildung genossen, aber Julia hatte am fleißigsten gelernt. Ihr Englisch war sehr gut, und ihr Lieblingsfach war Geschichte. Ihre Schwestern würden verheiratet werden, das wusste sie. Ob das besser oder schlechter sein würde, als mit Gott vermählt zu sein?
Schließlich fand Julia sich vor der Ateneo-Bibliothek wieder. In diesem Moment war sie weder ruhig noch passiv, sondern verzweifelt, vom Wind zerzaust und völlig außer Atem. Sie fasste sich wieder und sah zu dem prachtvollen Gebäude auf. In seinem Inneren befand sich ein Labyrinth aus Gängen und Lesesälen, das wie durch ein Wunder die Bombardements des Bürgerkriegs überlebt hatte und in dem Julia sonst gern umherschlenderte und las. Bald würde sie das nicht mehr tun können. Sie würde eine Gefangene sein, abgesondert von der Familie, die sie liebte, und von der Welt.
Eine Stunde lang streifte Julia durch die Straßen, bevor sie nach Hause zurückkehrte. Sie ging vorbei an den Bettlern und Landstreichern und weinte um das, was ihnen allen genommen worden war. Ihre Freiheit, aber auch ihre Identität und ihr Erbe, das tief in ihrer Seele verwurzelt war. Selbst im Ateneo waren verbotene, auf Katalanisch verfasste Bücher vernichtet worden. Die katalanische Presse war verboten,und alle anderen Zeitungen wurden zweifellos zensiert und kontrolliert. Die katalanische Sprache existierte praktisch nicht mehr. Heute wurde auf den Ramblas auch keine Musik mehr gespielt. Stattdessen forderten Plakate die Bürger auf, »die Sprache des Reichs zu sprechen«. Jetzt waren sie alle Spanier und nichts sonst mehr. Der Diktator hatte ihnen ihre eigene Stimme genommen.
Ob das Kloster in Barcelona der richtige Platz für Julia war? Sie senkte traurig den Kopf und spürte, wie eine letzte, einsame Träne über ihr Gesicht rann. Ihr Vater hatte gesagt, dass die Kirche für sie sorgen werde. Hatte sie eine andere Wahl? Ihre Familie hatte kein Geld. Andernfalls würden sie alle verhungern.
Hocherhobenen Hauptes betrat sie das Haus. Sie würde stark sein. Sie würde sich vor den anderen nicht anmerken lassen, wie schwer es sie traf, und die Entscheidung ihrer Eltern akzeptieren. Sie war eine gehorsame Tochter, und sie würde sich fügen.
9. Kapitel
A m Freitagabend ging Andrés ins Jazz-Café. Die Zeiten, in denen die Gäste mit einem Bier und einer Zigarette an der Bar gesessen hatten, waren zwar vorbei, doch das Café hatte seine Atmosphäre trotzdem bewahrt. Das Licht war gedämpft. Ein Mann am Klavier sorgte für musikalische Untermalung. Auf den Holztischen mit den roten Deckchen, die locker verteilt im Raum standen, flackerten Teelichter in bunten
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