Julias Geheimnis
darin war. Inzwischen konnte sie kaum noch die Augen offen halten, aber sie musste nachsehen. Sie wollte ihre Zweifel loswerden und dieses leise Gefühl, nirgendwo hinzugehören, so schnell wie möglich hinter sich lassen.
Die Urkunde war da. Puh. Sie steckte hinter ihrem Pass und ihrem Führerschein. Sie faltete sie auseinander und versuchte, dabei nicht die Luft anzuhalten. Schließlich hatte sie die Urkunde schon gesehen. Sie wusste, was darinstehen würde.
Es war nur eine gewöhnliche Geburtsurkunde. Sie wies den Distrikt der Anmeldung aus – Pridehaven, Grafschaft Dorset –, außerdem die Namen und Berufe ihrer Eltern – Vivien Rae, Tom Rae. Alles ganz normal. Sie besagte, dass ihr Name Ruby Ella war, und unten standen die Unterschrift des Standesbeamten und die Adresse ihres Geburtsorts. Diese war identisch mit der Adresse ihrer Eltern. Es war also eine Hausgeburt gewesen. Das war Ruby noch nie aufgefallen, aber sie konnte nichts Merkwürdiges daran finden. Viele Leute brachten ihre Kinder zu Hause zur Welt, sogar wenn es das erste war. Und manchmal steckte nicht einmal Absicht dahinter. Vielleicht war Vivien plötzlich in die Wehen gekommen und hatte nicht einmal Zeit gehabt, ins Krankenhaus zu fahren. Ruby lächelte. Ihre Mutter hatte ihr nie richtig davon erzählt. Sie hatte nur gesagt, dass es eine ganz normale Geburt gewesen sei.
Und dann fiel ihr noch etwas auf; etwas, bei dem ihr ganz flau im Magen wurde. Es war mit roter Farbe oben auf den rechten Rand der Urkunde gestempelt. Verspätete Anmeldung . Was hatte das zu bedeuten?
Ruby vergaß ihre Erschöpfung, holte ihren Laptop hervor und googelte. Sofort fand sie einen ziemlich umfassenden Artikel. Neugeborene waren innerhalb von zweiundvierzig Tagen anzumelden – so lautete das Gesetz. Doch eigentlich war den Behörden die Anmeldung selbst wichtiger als der Zeitpunkt. Eigentlich war jeder Zeitpunkt erlaubt, denn schlimmer als eine fehlende Anmeldung waren die vielen Probleme, die diese nach sich zog: Man konnte keinen Pass beantragen, man war nicht im System verzeichnet, man durfte nicht wählen und so weiter. Wenn eine Geburt also nicht innerhalb von zweiundvierzig Tagen angemeldet worden war, konntedas nachgeholt werden. Sogar noch Jahre später. Aber dann wurde »verspätete Anmeldung« auf der Geburtsurkunde vermerkt. So wie auf ihrer. Sie las weiter. Es waren Nachweise vorzulegen. Was konnte das sein? Die Aussage einer Hebamme vielleicht? Es musste schließlich eine Hebamme dabei gewesen sein, oder? Und Zeugen waren zu benennen. Wieder die Hebamme? Oder der Ehemann? Der Standesbeamte prüfte dann alle Belege … Ruby scrollte nach unten. Datum und Ort der Geburt wurden überprüft. Schließlich wurde die verspätete Registrierung öffentlich ausgehängt – ähnlich wie das Aufgebot vor einer Heirat. Wenn niemand Einspruch gegen die Registrierung erhob, war es geschafft. Man existierte.
Sie schloss die Seite und fuhr ihren Computer herunter. Warum hatten ihre Eltern ihre Geburt nicht sofort angemeldet? So etwas vergaß man doch nicht. Sie dachte an die Fotos im Familienalbum. Es gab keine Babyfotos aus den ersten sechs Monaten ihres Lebens, und ihre Geburt war nicht registriert worden. Was hatte das zu bedeuten? Zwei plus zwei ergab in der Regel vier, oder? Verspätete Anmeldung? Bedeutete das, dass auch jemand anders als die leiblichen Eltern eine Geburt anmelden konnte? Hieß das …? War es möglich …?
Ruby konnte nicht mehr denken. Sie war müde. Der Tag war so lang und in emotionaler Hinsicht auch sehr anstrengend gewesen.
Für sich allein genommen hieß das vielleicht nichts – sie konnte förmlich hören, wie Mel ihr versicherte, dass es nichts zu sagen hatte. Aber zusammen mit allem anderen, was sie entdeckt hatte … Es musste etwas dran sein, oder? Und wenn es einen Grund dafür gegeben hatte, ihre Geburtnicht gleich anzumelden, warum hatten ihre Eltern ihr dann nicht davon erzählt? War die Wahrheit so unangenehm, dass man sie Ruby nicht zumuten konnte?
Sie trat ans Bücherregal und fuhr mit den Fingern behutsam über die Kochbücher, die Gedichtbände, die Fotoalben. Es war Zeit, mit jemandem zu sprechen. Wer konnte wissen, ob Ruby wirklich Vivien und Tom Raes Tochter war? Wer konnte die wahren Umstände ihrer Geburt kennen? Wer wusste, warum ihre Geburt verspätet angemeldet worden war und warum ihre Eltern unten in ihrem Kleiderschrank eine Schuhschachtel mit Fotos, Hippie-Perlen, einem
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