Julias Geheimnis
Hocker.
Er mochte diesen Platz am Ende der Theke. Hier konnte er mit dem Rücken zur Wand sitzen, und es gab keine Überraschungen. Hier konnte er mit Tina plaudern, wenn sie nichts zu tun hatte, und er hatte die Bühne und den Rest des Raums gut im Blick. Manchmal nahm ihn die Musik ganz gefangen, dann wieder hatte er seinen Spaß daran, die Gäste zu beobachten, und gelegentlich vergaß er ganz, wo er war, und dann war es ein Schock, wenn geschlossen wurde und ihm klar wurde, dass er den ganzen Abend in Ricoroque verbracht hatte.
Ich bin ein Voyeur , dachte er, machte es sich auf dem Barhocker gemütlicher und nahm einen Schluck von seinem Bier. Ein Flaneur . Er war im Leben immer nur ein Zuschauer, der zusah, wie andere sich amüsierten.
Andrés hatte Tina vor mehreren Jahren kennengelernt. Sie und Gez waren seine ersten Freunde in West Dorset gewesen; das heißt, richtige Freunde, also Menschen, die sich wirklich etwas aus einem machten. Er war eines Abends ins Jazz-Café spaziert und, weil es dort gerade ruhig war, mit Tina ins Gespräch gekommen. Es war einfach, mit ihr zu reden; sie lachte viel, war direkt und spielte keine Spielchen. Das gefiel ihm. Er spielte sogar mit der Idee, sich mit ihr auf einen Drink zu verabreden. Eigentlich war sie nicht sein Typ. Aber andererseits: Was war sein Typ? Er war sich nicht sicher, ob er das wusste.
Doch Tina hatte ihm gleich zu Anfang klargemacht, dass sie nicht frei war. »Du musst noch einmal wiederkommenund Gez kennenlernen«, hatte sie gesagt. »Ihr werdet euch gut verstehen, das weiß ich jetzt schon.«
»Dein Mann?«, fragte Andrés, obwohl er keinen Ring bei ihr gesehen hatte.
»Mein Freund«, sagte sie. »Mein Liebhaber.« Sie sah ihm in die Augen. Ihre waren haselnussbraun, vermutete er, obwohl das im Schummerlicht des Cafés schwer zu beurteilen war. »Und wie sieht es mit dir aus?«
»Mit mir?« Einen furchtbaren Moment lang dachte Andrés, sie würde einen Dreier vorschlagen.
»Hast du jemanden? Eine Freundin? Eine Geliebte? Eine Frau?« Sie lachte. Schon damals war er ein offenes Buch für sie gewesen.
Er erwiderte ihr Lachen aus purer Erleichterung und fühlte sich wie ein Idiot. »Nein«, sagte er. »Niemanden.« Natürlich hatte es Frauen gegeben. Er war schließlich kein Mönch, um Himmels willen. Aber sobald es ernst zu werden begann, sobald die Frau versuchte, sich zu sehr in sein Leben einzumischen oder zu ihm ziehen wollte, vollführte er einen Befreiungsschlag. Vielleicht war es ihm nicht bestimmt, eine Frau fürs Leben zu finden. Vielleicht stieß ihn aber auch das, was er von der Ehe seiner Eltern mitbekommen hatte, ab. Oder er war nicht der Typ, der sich festlegte. Tina hatte da ihre Theorien – natürlich, sie war schließlich eine Frau. Ihre Theorie lautete, dass er die Richtige noch nicht gefunden hatte.
Damals hatte sie einfach die Achseln gezuckt. »Komm am Sonntag vorbei, dann lernst du Gez kennen«, hatte sie gesagt.
Seitdem versuchte sie, ihn zu verkuppeln.
Wie Tina vorausgesagt hatte, verstanden Andrés und Gez sich gut, und mit einem Mal wurde Andrés klar, dass er inzwischen ein Sozialleben hatte. Es hatte sich einfach so ergeben, als hätte er zufällig einen Schlüssel gefunden. Er konnte ins Jazz-Café schlendern und mit Tina reden, wann immer er Lust hatte; er war mindestens alle vierzehn Tage zum Abendessen bei Tina und Gez eingeladen, und meist spielte er am Sonntagmorgen Tennis mit Gez, gefolgt von einem Bier im Black Lamb in der Nähe des Tennisplatzes. Und er hatte – dank Tina – jede Menge Blind Dates.
Die waren nicht ganz so einfach.
Andrés setzte die Bierflasche an die Lippen. Er nahm es Tina ja nicht übel, dass sie es versuchte. Sie glaubte, es werde ihn glücklich machen, weil Gez sie glücklich machte. Mann braucht Frau, Frau braucht Mann. Wir sind nicht dazu bestimmt, allein zu leben. Aber Andrés wusste, dass sein eigenes Leben nicht ganz so einfach war, und vermutete, dass es nicht nur daran lag, dass ihm noch nicht das richtige Mädchen begegnet war.
Die erste Frau, mit der er sich traf, war schüchtern und unsicher und machte Andrés so nervös, dass er sein Glas umwarf und ihr Bier übers Kleid schüttete. Sein zweites Date verbrachte den größten Teil des Abends damit, verstohlen SMS an ihren Exfreund zu schreiben. Und die dritte versuchte, ihn nach zwei Gin und Tonic ins Bett zu zerren, und erschreckte ihn halb zu Tode.
»Was ist denn los mit allen meinen Freundinnen?«, klagte
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