Julias Geheimnis
Tina eines Abends beim Essen. Sie zählte sie an den Fingern einer Hand ab. »Du bist so verdammt wählerisch, Andrés.«
»Nichts«, sagte Andrés. »Es sind wirklich nette Damen.« Für jemand anderen, nur eben nicht für ihn.
»Frauen«, verbesserte ihn Tina und stach großzügige Lasagne-Portionen ab.
Andrés wechselte einen verschwörerischen Blick mit Gez,doch Tina war eben Tina, und ihr entging nichts. »Ach, geht doch zum Teufel«, erklärte sie freundlich.
»Okay.« Jedes Mal, wenn Andrés der Meinung war, dass er inzwischen fließend Englisch sprach, verwirrte ihn eine neue Nuance der Sprache. »Frauen.«
»Welche davon hat dir am besten gefallen?« Tina war zum Analysieren aufgelegt. Sie warf Salatblätter in eine Glasschale, die auf dem Tisch stand, und reichte Küchentücher herum, die als Servietten dienen sollten. »Damit ich es nächstes Mal besser mache.« Ihre Abendessen waren immer einfach und immer köstlich, und Tina strahlte eine Art von Wärme aus, die machte, dass sich Andrés bei ihr immer willkommen und wohlfühlte.
Er runzelte die Stirn. Was war die richtige Antwort darauf? Wieder sah er Gez an, doch der hatte eine unschuldige Miene aufgesetzt. Dieses Mal bist du auf dich gestellt , schien sie zu besagen. »Ähem, Nummer drei?«
»Du meinst Jane!«, fauchte Tina. Sie sprenkelte Balsamico auf die Salatblätter und gab einen Schuss Olivenöl dazu.
»Ja, Jane.«
»Dann magst du Frauen, die klein und schlank sind. Und blond.« Tina zog die Augen zusammen. »Hast du vielleicht einen Beschützerkomplex, Andrés?«
»Beschützerkomplex?« Er sah sie blinzelnd an. »Nicht, dass ich wüsste.«
Gez lud sich einen Berg Salat auf den Teller, und Andrés tat es ihm gleich.
»Klein, blond, niedlich, braucht einen Beschützer«, beharrte Tina.
»Von niedlich habe ich nichts gesagt.« Und sie irrte sich stark. Er mochte unabhängige Frauen, die eine Meinung undetwas zu sagen hatten. An einem Fußabtreter war er nicht interessiert. Fußabtreter gab es im Laden in der Stadt billiger.
Tina legte die Stirn in Falten. »Du musst ein bisschen lockerer werden«, meinte sie. »Du bist ein wenig zu steif, zu förmlich.«
Andrés zuckte die Achseln. Er war, wie er war. So hatte man ihn erzogen.
Tina legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du würdest es mir doch sagen, Andrés, oder?«
»Was?«
»Wenn du schwul wärest.«
Er lachte. Obwohl das vielleicht einfacher wäre. Denn ihm war jetzt schon klar, dass Tina ihn am nächsten Wochenende mit einer Person, die Jane vage ähnlich sah, locken würde wie einen Hund mit einem Knochen.
Vom anderen Ende der Bar aus machte Tina ihm ein Zeichen. Noch eins? Er nickte und stellte erst anschließend fest, dass er das erste schon ausgetrunken hatte. Er war durstig, aber jetzt würde er ein wenig langsamer machen.
Nachdem ein paar Monate lang nichts aus den Blind Dates geworden war, hätten die meisten Frauen aufgegeben. Aber nicht Tina. Sogar jetzt noch machte sie ihm regelmäßig Angebote, und Andrés musste zugeben, dass er eine Menge interessanter Menschen kennengelernt, etliche Verabredungen gehabt und einige neue Freunde gefunden hatte. Wo nahm sie nur all diese Leute her? Hatte sie eine Anzeige aufgegeben? Er hatte keine Freundin, aber er hatte jetzt ein Sozialleben. Sie hatte ihn mit starken Spinnenfäden eingesponnen.
Tina brachte ihm noch ein Bier. »Was ist los?«
»Nichts.« Er griff in die Tasche, um Kleingeld zu suchen.Er hatte in letzter Zeit öfter an seine Familie gedacht, an die Insel. Ein Teil von ihm sehnte sich schmerzlich danach, dorthin zurückzukehren. Aber wie konnte er an einen Ort zurückkehren, an dem er nicht erwünscht war? Es hat sich nichts geändert, hatte seine Mutter gesagt. Und sie hatte recht.
Plötzlich änderte sich die Musik. Der Pianist schlug einen anderen Rhythmus an, der Andrés’ Körper automatisch zum Vibrieren zu bringen schien. Er schloss die Augen. Wenn er taub wäre, dachte er, könnte er diese Musik trotzdem hören. Er würde sie in jeder Faser seines Wesens spüren, das wusste er.
Die Vibrationen erinnerten ihn an die Trommeln seiner alten Inselheimat. Die Dorfbewohner übten ständig auf ihren Trommeln für die Zeit der fiesta . Nach dem Sonnenuntergang versammelten sie sich auf dem Platz vor dem Kulturzentrum, um zu singen, zu trommeln und zu tanzen. Die Inselbewohner hatten ihre eigenen Traditionen: die Malagueña , die folias und seguidillas , und ihre eigenen Volkstänze, die sie zur fiesta in ihren
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