Julias Geheimnis
Trachten aufführten. Und an Feiertagen – Sonntagen und Fiesta -Tagen – wurde auf dem Dorfplatz gegrillt. Durchdringende Gerüche und Qualm stiegen von gewaltigen Wannen auf Rädern auf, die mit Holzkohle gefüllt und mit Gittern abgedeckt waren und auf denen Würste, Schweinerippchen und Ziegenfleisch brutzelten. In Kübeln kochten die kleinen, runzligen kanarischen Kartoffeln. Auf dem Platz waren Dutzende von Klapptischen aufgestellt, und der Wein aus der Gegend floss in Strömen. Die Trommeln dröhnten, und ihre schweren Vibrationen hallten durch die Nachtluft.
Später würde die Familie in der casa sitzen. Die Mutter würde vielleicht sticken oder aus einem Stück leuchtendrotem Stoff ein Kleid für Isabella nähen. Von Ricoroque aus war einst Cochenille verschifft worden, die rote, aus Schildläusen gewonnene Farbe, durch die das Dorf zu Wohlstand gekommen war. In der Bucht hatte man dafür eigens eine steinerne Landungsbrücke gebaut. Mit Cochenille waren die bayetas der spanischen Konquistadoren gefärbt gewesen; und die Navajo-Frauen pflegten diese leuchtend bunten Decken aufzutrennen und die Fäden neu zu verweben, um daraus ihre farbenprächtigen Kleidungsstücke herzustellen.
Andrés erinnerte sich lebhaft an einen Abend in seiner Kindheit. Mama hatte den Stoff mit Nadeln an Isabella festgesteckt und eine rote Blume in ihrem Haar befestigt. Als sie die Fenster und Türen öffneten und die dumpfen, urzeitlichen Rhythmen der Trommeln einließen, hatte Isabella zu tanzen begonnen. Seine ruhige, schüchterne Schwester schien an diesem Abend unter einem Bann zu stehen. Sie wiegte und drehte sich, bog den Rücken durch, wirbelte herum, und ihr tiefschwarzes Haar wehte hinter ihr her wie ein geöffneter Fächer. Immer lauter dröhnten die Trommeln durch die Nacht, und Isabella tanzte schneller und schneller. Schließlich machte auch Andrés mit. Seine Gliedmaßen reagierten instinktiv auf einen Rhythmus, den er nicht einmal verstand. Lachend hatte er seine Mutter hochgezogen, damit sie mit ihnen tanzte.
Enrique Marín jedoch tanzte grundsätzlich nicht. Er betrachtete seine Familie aus Augen, die so schwarz und undeutbar waren wie der vulkanische Fels ihrer Insel.
Andrés wischte sich eine Träne von der Wange. Er sah Tina nicht an, nur für den Fall, dass sie ihn beobachtete. Ein Spinnennetz …
Die Musik brach ab, und die Band, von der Tina gesprochen hatte, betrat die Bühne des Jazz-Cafés. Ein Teil des Publikums klatschte, und jemand stieß einen Beifallsruf aus.
Andrés registrierte einen Schlagzeuger, einen Keyboarder, jemand am Bass und … Ein Mädchen betrat die Bühne. Nein, eine Frau. Andrés blinzelte. Sie trug ein rotes Kleid und hatte sich, was fast schon unheimlich war, eine ebenfalls rote Blume in das strubbelige blonde Haar gesteckt. Er wusste, wer sie war. Die Frau von der Klippe, die ihm so bekannt vorgekommen war. Und jetzt wusste er auf einmal, warum. Er hatte sie hier gesehen. Vor Jahren, damals, als er das erste Mal ins Jazz-Café gekommen war. Sie war hier mit dieser Band aufgetreten. Und dann war sie verschwunden.
Die Gruppe spielte sich ein. Der Keyboarder sagte etwas ins Mikrofon, und die Frau in Rot nahm ein Instrument aus einem Kasten, ein schimmerndes Saxofon. Sie hielt es liebevoll in den Händen und schien es mit ihren Fingern geradezu zu streicheln.
Die Band begann zu spielen. »Summertime.« Unendlich langsam, und so traurig, dass es beinahe wehtat.
Nach dem Auftritt verließen die meisten Gäste das Lokal und Tina räumte Gläser die Tische ab und stapelte die Gläser auf die Theke.
»Wer ist sie?« Ihr Saxofon hatte so melancholisch geklungen. Andrés war ganz gebannt und fragte sich, wie jemand so traurig sein konnte. Ihre Traurigkeit hatte sich auf ihn übertragen, obwohl er sich nicht sicher war, ob es an ihrem Spiel lag oder an seiner eigenen Gemütslage. Vielleicht an beidem.
»Sie …?« Tina stand neben ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. »Du meinst Ruby?«
»Ruby.« Der Name passte perfekt.
»Na, da mach dir mal keine allzu großen Hoffnungen.« Tina trat wieder hinter die Theke. »Der heutige Auftritt war eine Ausnahme. Ruby wohnt nicht mehr hier, sie lebt schon seit längerer Zeit in London.«
London. War er interessiert? Andrés glitt von seinem Barhocker. An Fernbeziehungen hatte er jedenfalls kein Interesse, so viel war sicher. Nicht einmal an Beziehungen überhaupt. Trotzdem … »Mir hat nur gefallen, wie sie spielt«,
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