Julias Geheimnis
durch ihren Körper, und sie fühlte sich angriffslustig und entschlossen. 190 000 Pfund. Sie konnte, sie durfte nicht weiter gehen, denn ihr Limit war damit erreicht. Doch sie durfte nicht zulassen, dass er es ihrer Stimme anhörte.
»Einhundertfünfundneunzig«, erklärte er.
Ruby konnte nicht glauben, dass sie womöglich verlieren würde. 200 000. Sie ging mit, ohne dass ihre Stimme zitterte.
Er erhöhte um tausend.
Sie wusste, dass das zu viel war. Trotzdem erhöhte sie um fünf. Es war wie beim Pokern. Man musste bluffen und seinem Gegner so viel Angst einjagen, dass er aufgab. Es war ein Risiko, aber das Cottage war es wert.
Er erhöhte noch einmal um zehntausend.
Ruby wusste, dass sie erledigt war. Sie schüttelte den Kopf.
»Zweihundertsechzehntausend zum Ersten«, intonierte der Auktionator.
Ein allgemeines Seufzen. Alle wussten, dass sie geschlagen war. Die Menschen in ihrer Nähe zeigten mitfühlende Mienen. Ruby setzte ihre Sonnenbrille wieder auf, damit man ihr ihre Enttäuschung nicht ansah.
»Zum Zweiten«, sagte der Auktionator.
»Zweihundertdreißigtausend«, erklärte eine Stimme aus dem Hintergrund.
Alle drehten sich neugierig um. Die Stimme gehörte einem Mann in den Fünfzigern, der einen gut geschnittenen Nadelstreifenanzug trug. Ein aufgeregtes Raunen ging durch den Raum, und alle wandten den Kopf zu dem anderen Bieter, um zu sehen, was er tun würde. Er fing Rubys Blick auf und zuckte die Achseln.
Es gab keine weiteren Gebote.
»Verkauft«, erklärte der Auktionator und ließ seinen Hammer mit einem endgültig klingenden Knall herabsausen.
Ruby verließ die Halle. Mist. Es war nur ein Haus, sagte sie sich. Aber was sie verloren hatte, war das Märchen. Den Traum, von dem sie nun wusste, dass sie ihn nie zurückbekommen würde.
»Hey!« Jemand rannte hinter ihr her.
Ruby wollte mit niemandem reden. Sie ging schneller, aber sie wusste, dass er sie spätestens an ihrem Fahrrad einholen würde.
»Hey, Ruby!«
Sie fuhr herum. Es war der Mann mit dem dunklen Haar, der gegen sie gesteigert hatte. Was zum Teufel wollte er? Und noch wichtiger: Woher kannte er ihren Namen?
11. Kapitel
BARCELONA 1940
A n jenem ersten Tag begleitete Julias Mutter sie zum Kloster Santa Ana. Es war Spätherbst, und eine frostige Brise wehte über die Ramblas, als wolle sie Julia und ihre Mutter noch schneller vorantreiben. Die Mutter hielt Julias Hand fest gedrückt und zog sie mit. Es schien, als wolle sie nicht zulassen, dass sich doch noch Zweifel oder Bedenken einschlichen.
Sie blieb erst stehen, als das Kloster in Sicht kam.
Ob sie umkehren würden? Julia betrachtete das Torhaus vor ihnen, hinter dem sich streng und düster die Gebäude des Klosters erhoben. Hatten sie noch Zeit? Ihre Mutter drückte ihre Hand. »Es ist am besten so, meine Tochter«, flüsterte sie. »Es ist alles, was wir für dich tun können.«
Sie betraten das Torhaus und läuteten die Glocke im Vorraum. Julia warf ihrer Mutter einen Blick zu, doch diese hatte den Kopf gesenkt. Ob sie Tränen in den Augen hatte? Julia konnte es nicht erkennen.
Eine Nonne in einem einfachen weißen Habit trat in die Eingangshalle. Sie sprach nicht.
Julias Mutter hob den Kopf. »Wir haben einen Termin bei der Mutter Oberin«, sagte sie mit der klaren Stimme, die Julia als ihre Lehrerinnenstimme erkannte. Eine Stimme, die keinen Unsinn duldete.
Die Nonne neigte nur den Kopf und huschte davon.
Wieder warteten sie. Das war der schlimmste Teil, dachte Julia. Sie wünschte beinahe, sie wäre allein hergekommen und hätte sich zu Hause von ihrer Mutter und dem Rest ihrer Familie verabschiedet. Das wäre besser gewesen als das hier, als diese Übergabe.
Die Mutter Oberin erschien in der Eingangshalle. Sie war an dem Blau in ihrem Habit und ihrem gebieterischen Blick zu erkennen. Sie war alt, und ihr Gesicht war so verschrumpelt wie eine Backpflaume, aber sie ging hoch erhobenen Hauptes und strahlte Würde aus.
Wieder senkte Julias Mutter den Kopf. »»Ehrwürdige Mutter, dies ist meine Tochter Julia.«
Als die Mutter Oberin sie mit durchdringendem Blick musterte, tat Julia es ihrer Mutter nach und schlug ebenfalls die Augen nieder. Doch sie stellte sich Fragen.
Was für einen Handel hatten sie abgeschlossen, damit Julia herkommen konnte? Was war dabei versprochen worden? Hatte Geld den Besitzer gewechselt, oder hatten ihre Eltern einen Gefallen eingefordert, den ihnen jemand schuldig war? Julia sah keine Möglichkeit, das
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