Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
Vom Netzwerk:
herauszufinden.
    Heute Morgen, bevor sie gegangen waren, hatte ihr Vater ihre Schultern fest umfasst. »Es tut mir leid, mein Liebes«, hatte er gesagt. »Gott weiß, ich habe nie gewollt, dass es so weit kommt.«
    Julia konnte ihn kaum ansehen, aber sie begriff. Wenn man drei Töchter hatte, die nicht arbeiten durften, und eine solche Nahrungsmittelknappheit herrschte, musste man die drei verheiraten, oder alle mussten verhungern. Das war eine einfache Rechenaufgabe. Und wenn zwei dieser Töchter hübsch waren und eine unscheinbar   … Die Kirche bot wenigstens eine weitere Möglichkeit. No muerdas la mano q ue te da de comer. Beiß nicht die Hand, die dir zu essen gibt. Ja, das verstand sie. Aber trotzdem. Sie blinzelte eine Träne weg.
    Die ehrwürdige Mutter führte sie herum. Die Klostergebäude gruppierten sich um einen quadratischen, halb verfallenen Kreuzgang, dessen friedvolle Stille Julia sofort berührte. Dahinter lagen die Wohnquartiere der Nonnen. Es gab eine Küche und ein Lagerhaus, eine Krankenstation und ein Refektorium.
    »Es macht alles einen sehr guten Eindruck«, meinte Julias Mutter und sah Julia an, als solle sie etwas sagen, das bekräftigen vielleicht.
    Und es ist so friedlich, dachte Julia, der die Stimmung im Kloster trotz allem gefiel, jedenfalls im Vergleich zur Welt draußen. Das war ein kleiner Trost.
    Die ehrwürdige Mutter zeigte ihnen die Kapelle. Julia stand vor dem reich geschmückten Altar und betrachtete die Fresken, deren lebhafte Farben mit der Zeit verblasst waren. Konnte sie hier leben, ein Zuhause finden?
    Die ehrwürdige Mutter nickte Julias Mutter zu, und Julia überlief ein Schauer. Sie wusste, dass es Zeit war, sich zu verabschieden. Aber dies vor der alten Nonne zu tun, die dort mit geduldig gefalteten Händen stand, das erschien ihr unmöglich.
    Julias Mutter umarmte sie und küsste sie auf die Wange. »Du musst zufrieden sein, Julia«, flüsterte sie. »Bitte sei zufrieden.«
    »Mama   …« Aber Julia sah die unendliche Trauer im Blick ihrer Mutter. Wie konnte sie es ihr noch schwerer machen, nach allem, was sie und Papa durchgemacht hatten? Daher schluckte sie und schwieg.
    »Leb wohl, meine Tochter.«
    Julia sah ihrer Mutter nach. Das war es also gewesen. Das Ende ihrer Kindheit. Der Tag, an dem sie von ihrer eigenen Familie verlassen wurde. Weggegeben, damit sie vielleicht ein besseres Leben fand. Damit sie nicht zu hungern brauchte, damit sie ohne Angst leben konnte. Sie wollte ihrer Mutter hinterherrufen und machte schon einen Schritt nach vorn, um ihr nachzurennen und sich in die warmen Arme ihrer geliebten Mutter zu werfen.
    Doch die ehrwürdige Mutter legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie zurückzuhalten. »Sei ganz ruhig, mein Kind«, sagte sie. »Denn es ist geschehen.«
    Und dann war Julias Mutter fort.
    »Du wirst feststellen, dass wir uns hier größtenteils selbst versorgen«, erklärte die Mutter Oberin, während sie Julia davonführte. »Das ist der Kräutergarten.«
    Julia sah Lavendel, Beinwell und Seifenkraut, doch die Pflanzen verschwammen, weil ihr die Tränen in den Augen standen.
    »Und die Gemüseparzelle.« Sie zeigte auf die Zwiebeln, Wurzelgemüse und Tomaten.
    Julia wischte sich die Tränen aus den Augen und sah dahinter einen kleinen Obstgarten und einen Springbrunnen. »Danke, ehrwürdige Mutter«, sagte sie, da anscheinend von ihr erwartet wurde, dass sie etwas sagte. Was hätte sie sonst sagen können? Was könnte sie sonst tun? Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    Eine der anderen Nonnen zeigte Julia ihre Zelle. Sie sprach nicht, sondern lächelte und nickte nur, aber wenigstens sahen ihre Augen freundlich aus.
    Julia stand in der Tür. Der Raum war klein und schlichtund sah so ganz anders aus als ihr Zimmer zu Hause. Wo war ihre hellblaue Tagesdecke? Das liebevoll gehütete Foto ihrer Familie, wie sie zusammen vor ihrer Haustür stand? Ihre Kleider und ihre Bücher? Die Haarkämme ihrer Schwestern? Ihre Kleider, ihre Schuhe? Julia schluckte die Tränen hinunter. Sie musste stark sein.
    Es würde vielleicht sogar ganz behaglich sein, hinter diesen Mauern zu leben. Das Gefühl von Frieden, das sie sofort wiedererkannt hatte wie einen lange verlorenen, altvertrauten Freund, würde bestimmt erholsam sein, nachdem das Leben in der Stadt in den letzten Jahren so schwer gewesen war. In ihrem Leben gab es keinen jungen Mann; sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, jemanden kennenzulernen, und außerdem waren so viele junge Männer tot. Sie

Weitere Kostenlose Bücher