Julias Geheimnis
hatten alle so viel durchgemacht, so viel Not und Angst erlitten, dass sie beinahe froh war, sich aus der Welt, in der sie gelebt hatte, zurückziehen zu können. An diesen Gedanken musste sie sich klammern.
Und so legte Julia ihre ersten, einfachen Gelübde ab. Sie verdrängte Familie und Freunde, die so lange ihr Leben erfüllt hatten, aus ihren Gedanken. Mit Gewalt entwöhnte sie sich von der sanften, tröstlichen Umarmung ihrer Mutter, dem Kuscheln mit ihren Schwestern im Bett, der vertrauten, tiefen Stimme ihres Vaters. Stattdessen musste sie Gott annehmen. Er war gerecht, und Er war treu. Er würde ihr helfen, diese Trennung zu überleben.
Das tägliche Leben einer Nonne sah allerdings anders aus, als sie erwartet hatte.
Die Gebete begannen um viertel nach fünf am Morgen, wenn es in der Kapelle noch kalt, dunkel und zugig war.Noch vor dem Frühstück fanden drei Gottesdienste statt. In der ersten Zeit, als sich ihr Körper noch nicht daran gewöhnt hatte, war Schwester Julia manchmal ganz flau vom Knien auf dem kalten Stein und vom nagenden Hunger. Dann kostete es sie alle Kraft, aufzustehen und zum Frühstück ins Refektorium zu gehen. Und es kostete sie ihre ganze Beherrschung, das Essen nicht hinunterzuschlingen, als wäre es ihre letzte Mahlzeit.
Die Morgengebete begannen mit einem leisen Gesang. Man hatte Schwester Julia ein Gebetbuch gegeben, aber bald konnte sie Teile der Messe auswendig. Gloria al Padre, al Hijo y al Espíritu Santo … Amén . Sie fand ein gewisses Maß an Trost darin. Die Monotonie und das Ritual beruhigten die Sinne, und bald sang sie leise mit, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan.
Der Rest des Vormittags war der Arbeit gewidmet. Wie die ehrwürdige Mutter erklärte, half Arbeit den Schwestern dabei, eitle Gedanken, Müßiggang und Klatsch zu vermeiden. Klatsch gab es ganz bestimmt nicht. Den größten Teil der Zeit sprach überhaupt niemand, und das fiel Schwester Julia schwer, denn sie war von zu Hause an das Geplauder Matildes, Palomas und ihrer Freundinnen gewöhnt.
Abends vor dem Vespergebet versammelten sich die Nonnen und zogen dann gemeinsam in die Kapelle. In der Stille dort hatte Schwester Julia viel Zeit für ihre eigenen Gedanken und ihr eigenes Gebet. Doch die Sehnsucht nach ihrem Zuhause und ihrer Familie war wie ein körperlicher Schmerz, den sie von morgens bis abends im Herzen spürte. Konnte Kontemplation je ein Ersatz dafür sein? Das war sicher unmöglich, ganz gleich, wie sehr sie sich auch anstrengen mochte.
Sie gab sich die größte Mühe, Frieden im Gebet zu finden und die einfachen Rituale des Klosterlebens als beruhigend zu empfinden. Abgesehen von den einfachen Arbeiten, die man ihr zuwies, und vom Gebet wurde nichts von ihr verlangt. Niemand erwartete von ihr, zu lachen, zu reden oder ihr hübsches Haar zu kämmen. Nichts erinnerte sie hier daran, dass sie die unscheinbare, die ernste Schwester war. Hier waren alle unscheinbar und schlicht, und es machte überhaupt nichts. Sie brauchte sich auch keine Sorgen um sich selbst oder um ihre Familie zu machen. Gott würde für sie sorgen. Es würde kommen, was kommen musste … Wenn sie sich nur dazu überwinden konnte, daran zu glauben.
Die Mahlzeiten wurden im Refektorium eingenommen, einem prächtigen Saal mit hohen Deckengewölben. Dort herrschte Schweigen, während eine von ihnen laut aus einer Geschichte des Ordens in Katalonien vorlas. Schwester Julia dachte an die Gerichte, die ihre Mutter gekocht hatte, wann immer sie sich die Zutaten beschaffen konnte. Sie dachte an das Gelächter und Gejammer ihrer Schwestern, die beim Auftragen des Essens halfen und gleichzeitig im Weg standen. Ach, hier war alles so anders als zu Hause. Das Essen war einfach und schlicht, aber gut. Zum Frühstück gab es Kaffee, Brot, Marmelade und Schinken, und zum Abendessen Suppe, oft eine Brühe mit Resten, und Salat. Die Schwestern litten niemals Hunger, und es war lange her, dass Schwester Julia sich so satt gefühlt hatte. Trotzdem wäre sie lieber hungrig und zu Hause gewesen. Wie mochte es ihren Eltern und ihren Schwestern gehen? Und wann würde ihre Familie sie besuchen kommen? Diese Fragen gingen ihr ständig durch den Kopf.
Das Kloster Santa Ana unterhielt sich genau wie die meisten anderen Klöster selbst. Die Schwestern nahmen Spenden von den wohlhabenderen Bürgern der Stadt entgegen, verkauften Stickarbeiten und stellten Süßigkeiten und Kuchen wie rosquillas de almendra –
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