Julias Geheimnis
– ihnen den richtigen Weg weisen, den Weg Gottes, den Weg, von dem Dr. López wünschte, dass sie ihn beschritten.
Nachdem der Arzt fort war, entfernte sich die Schwester, um die Dienstpläne zu kontrollieren und das Säubern des Fäkalienraums zu überwachen, und Schwester Julia blieb mit einer der jungen Frauen allein.
Sie war schlank und dunkelhaarig, und die Wehen hatten bei ihr bereits eingesetzt. Der Schmerz kam in regelmäßigen Wellen, und jedes Mal keuchte sie auf und umklammerte Schwester Julias Hand fest. Ihre Stirn war schweißnass. Instinktiv legte Schwester Julia ihr ein kühles, weiches Flanelltuch darauf und strich der jungen Frau das Haar aus dem Gesicht.
» Madre mía . Gott sei Dank, dass Sie hier sind«, murmelte sie. »Sonst wäre ich ganz allein.«
Schwester Julias verspürte großes Mitgefühl. Niemand in ihrer Lage sollte allein sein. Dr. López hatte ihr geraten, die Frauen nicht dazu zu ermuntern, mit ihr zu reden. »Sie müssen ihnen gegenüber bestimmt auftreten«, hatte er erklärt. »Die Lektion, die sie lernen müssen, kommt von Gott.« Aber Jesus hatte auch Nächstenliebe gelehrt, und dies war eine Frau, die litt und die sie brauchte. Sie musste sie bei dem traumatischen Geburtserlebnis unterstützen und ihr nicht nur von Gott erzählen.
»Ganz still, meine Schwester«, sagte sie. »Der Schmerz geht vorüber. Und dann haben Sie ein wunderschönes Kind.« Und sie hielt der Frau die Hand und rieb ihr den Rücken, wenn die Wehen kamen.
»Wenn nur mein Mann hier wäre …«, keuchte die Frau.
Schwester Julia, die das Tuch in der Wasserschale auf dem Wagen neben sich neu befeuchtet hatte, hielt inne. »Ihr Mann?«, fragte sie. Hatte man ihr nicht erklärt, dass diese junge Frau vom Pfad der Tugend abgekommen sei? Wie war das möglich, wenn sie einen Ehemann hatte? Außer, sie …
»Er ist im Gefängnis«, flüsterte die Frau und umklammerte Schwester Julias Handgelenk so fest, dass sie fürchtete, es könne brechen. »Er ist verschwunden. Vielleicht wird er gefoltert. Vielleicht ist er tot. Ich weiß es nicht.«
Schwester Julia dachte an das Verschwinden der jungen Krankenschwester und die Vorsicht, die ihre Eltern sie gelehrt hatten. Rasch sah sie sich in dem Saal mit den schmalen Betten um, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte. Aber niemand schien auf sie zu achten, und von den Krankenschwestern und Ärzten war niemand zu sehen. Es war schon merkwürdig, dachte Julia, dass man es einer unausgebildeten Nonne, noch dazu einer Novizin, überließ, eine Frauin den Wehen zu betreuen, während die Krankenschwestern und Ärzte irgendwelchen anderen Beschäftigungen nachgingen.
Rasch löste sie sich aus dem Griff der Frau und stellte den Wandschirm neben dem Bett auf.
»Was meinen Sie?«, flüsterte sie. Julia erinnerte sich an jene Nacht, in der ihrem Vater beinahe die Stimme versagt hatte, als er von der Festung Montjuïc und den Gefangenen dort gesprochen hatte. Seine Worte und seine Stimme hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Die Frau sah sie direkt an. »Er war Republikaner, Schwester«, sagte sie. »Zu stolz, um wegzulaufen. Mitten in der Nacht haben sie ihn abgeholt.« Sie stöhnte auf, als eine weitere Wehe ihren Körper schüttelte.
»Jetzt flach atmen«, befahl Schwester Julia. Viel wusste sie nicht, aber es war genug. Hatte sie während des Bürgerkriegs nicht geholfen, kochendes Wasser zu bereiten, als ihre Nachbarin in den Wehen gelegen hatte? Ihre Mutter hatte der Frau beigestanden und mehr oder weniger das getan, was sie jetzt tat. »Tief atmen, wenn der Schmerz vergeht.« So würde der Fötus wenigstens gut mit Sauerstoff versorgt werden, hoffte sie. Die Frau war unterernährt; sie war praktisch nur noch Haut und Knochen. Was war nur los mit einem Land, das nicht einmal für seine eigenen Bürger sorgen konnte?
Später brachte man die Frau in den Kreißsaal.
Schwester Julia machte sich auf die Suche nach Dr. López. Sie fand ihn im Schwesternzimmer am Ende des Krankensaals, wo er mit einer der Schwestern scherzte.
»Könnte ich bitte mit Ihnen sprechen, Doktor?«, fragte sie.
Seine Miene verdüsterte sich. »Ja, Schwester Julia«, sagte er. »Was ist?«
Sie erklärte ihm, was die Frau ihr erzählt hatte. »Können wir ihr nicht helfen, herauszufinden, was aus ihrem Mann geworden ist?«, fragte sie ihn. »Vielleicht ist er ja noch am Leben.«
Dr. López schüttelte traurig den Kopf. »Sie müssen noch viel lernen, Schwester Julia«,
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