Julias Geheimnis
Dunkelheit war wie ein Schleier, aber sie konnte nicht überdecken, was diese Stadt erlebt und was Schwester Julia gesehen hatte.
Männer waren wegen ihrer Überzeugungen ins Gefängnis gesperrt und gefoltert worden. Frauen hatten ihre Kinder allein großgezogen – oder sie hatten sie weggegeben, weil sie sich ein besseres Leben für sie erhofften. Und Mädchen wie Agnes wurden vergewaltigt, im Elend zurückgelassen und mussten dann noch für das Verbrechen bezahlen – und all das nur, weil sie ein hübsches Gesicht und einen Körper hatten, den Männer begehrenswert fanden.
Das konnte nicht richtig sein.
Schwester Julia ging über das Kopfsteinpflaster in Richtung Ramblas, vorbei an Bars und leeren Marktständen. Sie dachte an ihre Familie, an Mama und Papa und ihre beiden Schwestern. Sie sah sie inzwischen so selten. Sie kamen sie nur besuchen, wenn es Neuigkeiten in der Familie gab – einmal im Jahr, wenn überhaupt. Sie alle lebten zwar in derselben Stadt, aber sie hatten sich in der Zwischenzeit so weit voneinander entfernt. Und ihr Vater kam nie mit …
Beim letzten Mal waren es ihre Mutter und die beiden Schwestern gewesen, die verlegen in der Vorhalle von Santa Ana gesessen und auf sie gewartet hatten.
»Wo ist Papa?«, hatte Julia wie immer gefragt.
Der Blick ihrer Mutter war ihr ausgewichen. »Du weißt, dass er viel zu tun hat, Tochter«, sagte sie.
»Hat er Arbeit? Habt ihr zu essen?«, fragte Julia. Sie konnte nicht anders, sie machte sich Sorgen. Ihr Eintritt ins Kloster hatte die Familie von der Last befreit, für sie sorgen zu müssen, aber die anderen waren immer noch zu viert. Siesah in ihre Gesichter. Alle drei waren schmal, aber nicht unterernährt.
»Wir haben genug«, versicherte ihre Mutter ihr. »Du brauchst keine Angst um uns zu haben.«
»Nein, wirklich nicht, Schwester«, sagte Paloma und sah Julia aus strahlenden Augen an.
»Und jetzt du, Matilde …«
»Ich soll heiraten.« Seit sie gekommen waren, hatte Matilde verdrossen dreingeschaut, und jetzt begriff Schwester Julia auch, warum.
»Wen?«, erkundigte sie sich.
»Einen Mann, der alt genug ist, um mein Vater zu sein«, gab sie mürrisch zurück.
»Matilde …«
Doch Julia fing die Blicke auf, die zwischen den dreien gewechselt wurden, und sie begriff, wie die Lage war. Es war das zweite Opfer, zu dem ihre Familie gezwungen worden war.
»Er ist ein guter Mann. Und er ist reich«, erklärte ihre Mutter.
»Magst du ihn nicht?«, fragte Julia Matilde leise.
Ihre Schwester sah ihr direkt in die Augen, und was Schwester Julia in Matildes Blick las, ließ sie beinahe auf die Knie sinken. Sie wollte ihre Mutter anflehen, es nicht zuzulassen.
»Ich empfinde nichts für ihn«, sagte Matilde.
»Dann …«
»Es ist so vereinbart.« Die Stimme ihrer Mutter klang fest.
Schwester Julia senkte den Kopf. »Und hat Papa mir keine Nachricht geschickt?«, fragte sie.
Ein kurzes Schweigen trat ein.
»Er denkt oft an dich«, sagte Mama.
Aber er kommt mich nie besuchen.
Vielleicht konnte er es nicht ertragen, dachte Schwester Julia. Vielleicht konnte er es nicht ertragen, sie in ihrem Nonnenhabit zu sehen und mit anzusehen, was aus ihr geworden war.
Jetzt beschleunigte Schwester Julia ihre Schritte, während sie an den Zeitungskiosken und Läden vorbeiging. Sie gestattete ihrem Blick nicht, auf den Schaufenstern zu verweilen; denn die Kleider und Handtaschen und der Putz, die für andere Frauen vielleicht die Welt bedeuteten, waren nicht für sie bestimmt.
Wieder dachte Schwester Julia an Agnes Jurado. Wie mochte ihre Welt aussehen? Was würde aus ihr und ihrem ungeborenen Kind werden?
Die Kirchenglocke läutete. Schwester Julia war froh, ins Kloster zurückzukehren; in die Sicherheit und heitere Ruhe von Santa Ana. Sie läutete die Türglocke, und eine Schwester kam, um die schweren Tore zu öffnen und sie einzulassen. Julia betrat die Eingangshalle, in der es nach Kerzenwachs und Feuchtigkeit roch. Sofort ging sie zur Mutter Oberin. Sie musste mit jemandem darüber reden. Schwester Julia erzählte von den Adoptionen, und sie erzählte ihr von Agnes Jurado. Am liebsten hätte sie noch mehr erzählt und erklärt, warum es ihr so falsch vorkam. Doch …
»Du bist verwirrt, mein Kind«, sagte die ehrwürdige Mutter freundlich. »Dr. López schützt einfach die Unschuldigen, und das ist Gottes Wille.«
Schwester Julia dachte an Agnes und die Vergewaltigung. »Aber Agnes …«
Die ehrwürdige Mutter
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