Julias Geheimnis
Gobelins an den Wänden, den bestickten Kissen auf den hölzernen Bänken und den cremeweißen Kirchenkerzen in ihren Messingleuchtern war die Kapelle vollkommen kahl. Kurz hielt sie inne, um sich die Atmosphäre am Samstag vorzustellen, wenn sie voller glücklicher Menschen und frühlingshaften Hochzeitsblumen sein würde. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf den Korb. Das Baby regte sich erneut und öffnete den Mund, als hätte es Hunger. Herrje.
Gerade als sie mit dem Eimer voller Blumen in die winzige Teeküche hinter dem Vorhang gehen wollte, begann Ruby zu schreien. Oh, oh . Eine Vorwarnung bekam man also nicht.
Sie stellte den Eimer auf den Steinboden und eilte zurück zu der Bank. Die Augen der Kleinen waren weit geöffnet. »Hallo, Ruby«, murmelte Vivien.
Ruby sah sie an und brüllte. Sie hatte eine ziemlich laute Stimme, und so, wie es klang, musste man sich um sie kümmern, und zwar sofort.
»Na, na. Was soll denn dieser Lärm?« Vivien beugte sich hinunter und nahm die Kleine auf den Arm. Sie fühlte sich gut an, obwohl sie bereits herumzappelte, als hätte sie seit Tagen nichts zu essen bekommen. »Mach doch nicht so ein Spektakel. Du bist in einer Kapelle, weißt du, Schätzchen.«
Das Baby holte noch einmal tief Luft und schrie weiter.
Vivien wiegte sie hin und her. »Psst, psst«, sagte sie in das verkniffene, rote Gesichtchen hinein. Behutsam strich sie mit dem Daumen über die zusammengezogene Stirn.
Das Baby hörte nicht auf zu weinen, sondern lief knallrot an und steigerte sich in einen wahren Schreikrampf hinein.
»Na schön, wir kümmern uns um dich.« Mit der freien Hand durchwühlte sie den Inhalt des Korbs und fand tatsächlich ein vorbereitetes Fläschchen. Gott sei Dank. Warm war es aber natürlich nicht.
Sie nahm Flasche und Baby mit in die Teeküche, wobei sie weiter auf das Baby einredete und es wiegte. Eigentlich war die Küche nur ein Spülbecken, das aber war mit einem Heißwasserboiler ausgestattet.
Sie ließ das Wasser laufen und legte die Kleine an ihre Schulter, wo sie sich heulend aufbäumte, aber wenigstens konnte Vivien so mit der einen Hand das Fläschchen vorbereiten und mit der anderen das zappelnde Baby, das sich als erstaunlich kräftig erwies, sicher festhalten. Auf dem Abtropfbrett standen die Vasen, die Frances mitgebracht hatte. Vivien fand eine, die als Behälter für das warme Wasser geeignet war, und füllte sie. Sie stellte die Flasche aufrecht hinein und schüttelte sie gelegentlich, damit die Milch sich gleichmäßig erwärmte. Ihre Handgriffe waren sicher; sie wusste instinktiv, was zu tun war. Aber Laura musste doch auch gewusst haben, dass Ruby bald Hunger bekommen würde. Sie hätte sie wenigstens vorwarnen können, dass Ruby gefüttert werden musste. Aber Laura war eben nicht besonders verantwortungsbewusst.
Nachdem Vivien ein paar Minuten auf das Baby eingeredet, es gewiegt und die Flasche gewärmt und geschüttelt hatte, prüfte sie die Milch an ihrem Handrücken. Es würde gehen. Sie legte Ruby in eine Armbeuge und bot ihr die Flasche an. Das atemlose Baby reckte sich verzweifelt danach, trank, spuckte und hustete. Endlich begann es zu saugen und verstummte. Selige Ruhe. Vivien atmete erleichtert durch. So war das also, wenn man Mutter war, dachte sie. So fühlte sich das an.
Sie ging zurück in die Kapelle, wobei sie dem Baby weiter die Flasche gab. Dort setzte sie sich vorsichtig in die vorderste Bank und strich dem Baby über die Stirn. Das Gesicht war schon weniger rot, die Kleine fühlte sich entspannt an und lag weich in Viviens Armen.
»Na, siehst du«, sagte sie.
Mit einem Klicken öffnete sich die Tür der Kapelle.
Ach du liebe Güte, dachte Vivien. Durfte man hier überhaupt Babys füttern?
»Vivien?« Es war nur Frances. »Oh mein Gott«, meinte sie und kam näher. »Wer ist denn das?«
»Das ist Ruby«, erklärte sie. Sie erzählte ihr von Laura. »Ich dachte, sie bräuchte einmal eine Pause«, sagte sie, »deswegen passe ich ein Weilchen auf sie auf.«
»Oh, wie hübsch.« Frances setzte sich neben die beiden und schnalzte dem Baby mit der Zunge zu. »Ist sie nicht ein richtiger Schatz?«
»Ja.« Vivien drückte Ruby ein wenig fester an sich als zuvor. Sie wäre gern noch ein paar kostbare Minuten allein mit dem Baby gewesen, aber das war albern, nichts weiter.
Vivien legte das Baby an ihre Schulter und klopfte ihm sanft auf den Rücken. Sie hätte Laura, Julio und die kleine Ruby einladen sollen, bei ihnen zu wohnen.
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