Julias Geheimnis
– war das Meer grün und glatt. Es trug weiße Schaumkronen, denn der Wind peitschte die Wellen auf. Sie atmete die frische, salzige Luft ein. Vivien liebte diese Stelle. Hier fühlte sie sich lebendig.
Sie dachte zurück an ihre Hochzeit mit Tom. Sie erinnerte sich an ihren Vater in dem ungewohnten dunkelblauen Anzug mit steif gestärktem weißen Hemd und dunkelblauer Krawatte, wie er sie mit festem, pflichtbewusstem Griff am Arm genommen hatte und sie im Standesamt von Bridport den Gang zwischen den Sitzreihen entlanggeführt hatte. Ihre Mutter, die in Blau und Cremeweiß gekleidet gewesen war, hatte vorne gestanden und nervös gelächelt. Warum konntest du nicht in einer Kirche heiraten? Das hatten sie gesagt. Aber was hatten sie an diesem Tag wirklich gedacht?
Es war schon merkwürdig, dass sie ihre Eltern heute so selten sah. Seit dem Umzug auf die schottische Insel waren sie richtige Einsiedler geworden. Vivien vermutete, dass sie schon immer dazu geneigt hatten und nie wirklich Teil einer geselligen, kommunikativen Welt hatten sein wollen. Vielleicht hatte sie sich deswegen als Kind oft einsam gefühlt. Sie hatte sich nach einem Haus gesehnt, das immer voller Menschen war, und von Nachbarn oder Freunden geträumt, die einfach auf eine Tasse Tee vorbeikamen, plauderten, lachten. Doch stattdessen war es in ihrem Haus immer still gewesen. Und so war auch Vivien ein ruhiges Kind geworden. Ihre Welt waren die Bücher, die sie las, und ihre imaginären Freunde.
In ihrem fernen Zuhause auf der Insel hatten ihre Eltern zwar Telefon, doch sie riefen kaum jemals an. Ab und zu meldete sich Vivien bei ihnen. Aber bei jedem dieser steifenGespräche hatte sie das Gefühl, dass etwas fehlte, und wenn sie auflegte, verspürte sie den Wunsch, längere Zeit nicht wieder anzurufen. Es war, als ob ihre Eltern mit dem Umzug mehr als nur geografische Distanz zwischen sich und ihre einzige Tochter gelegt hätten. Es war, als ob es auch eine persönliche, eine innere Distanz gab. Vivien kam es vor, als hätte sie die beiden verloren.
Vivien dachte an Tom. Sie hatte Glück, dass sie ihn hatte. Sie wollte nicht einmal darüber nachdenken, wie es wäre, Tom zu verlieren. Nachdem ihre Eltern so weit fort waren, war er alles, was sie hatte.
Ein Kind rannte an ihr vorbei, ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren in einem rosa Blumenkleid und Strandschuhen aus Plastik. Es rannte den Kieselabhang auf der anderen Seite hinunter, streckte die Arme in die Höhe und schrie vor Freude. Vivien lächelte. Oben am Café sah sie die Eltern des Mädchens. Sie lachten und hatten einen kleinen Jungen bei sich, der an der Hand seiner Mutter zog. Eine perfekte Familie. Sie seufzte.
Herrje, was war nur heute Nachmittag in sie gefahren? Was hatte diese Stimmung ausgelöst? Vivien wandte den Blick vom Meer und dem Kind ab und ging weiter über den sandigen Weg auf die Kapelle zu. Sie wusste, was der Grund war.
»Vivien!« Sie fuhr herum, hielt die Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und dann sah sie ihn. Am Strand parkte ein in psychedelischen Farben knallbunt bemalter, alter Campingbus. Neonpink, grelles Grün und dunkles Violett wirbelten durcheinander und waren mit Mond und Sternen gesprenkelt. An der offenen Tür stand Laura und winkte. »Hey, Vivien!«
»Hallo, Laura.« Sie winkte zurück, ließ den Blumeneimer auf der ausgetretenen Schwelle der alten Kapelle stehen und ging zu ihr. Das war also der berühmte VW -Bus, in dem Laura und Julio mit der kleinen Ruby lebten, in dem Laura ihr Kind zur Welt gebracht hatte und in dem sie von Spanien nach England zurückgefahren war. Vivien betrachtete den bunt bemalten Wagen. Es überraschte sie, dass die jungen Leute es mit dem klapprigen Bus bis hierher geschafft hatten.
Laura wirkte fröhlicher als bei ihrer letzten Begegnung. »Das ist Julio«, erklärte sie und deutete auf einen jungen Mann mit mürrischer Miene und dunklen Locken, der im hinteren Teil des Busses auf einer Sitzbank herumlümmelte.
»Hallo«, sagte Vivien. Ihr fielen die Aufkleber an den Fenstern auf. Love and Peace. Weg mit der Bombe. Ein Regenbogen. Aus dem Bus kam ein Duft nach Patchouli-Räucherstäbchen, der mit der Brise davonwehte. Sie konnte sich gut vorstellen, warum sie auf dem Heimweg mehr als einmal von der Polizei angehalten worden waren. Aber eigentlich war der Bus im Inneren ganz entzückend eingerichtet. Er hatte ein Aufstelldach, sodass Platz genug war, um aufrecht zu stehen. Gegenüber der
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