Julias Geheimnis
geworden?«, wollte Ruby von Frances wissen. »Wo ist sie jetzt? Hast du eine Ahnung?« Einen aufregenden Moment lang stellte sie sich vor, dass Frances vielleicht in Kontakt mit ihr geblieben war und ihr Lauras Aufenthaltsort nennen konnte. Sie stellte sich vor, wie sie sie fand, sich mit ihr traf und mit der Mutter, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie besaß, wiedervereint war.
»Ich weiß nicht, wo sie heute ist, Liebes«, sagte Frances freundlich. »Vivien und Tom haben, glaube ich, einmal versucht, sie zu finden. Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Sie ist einfach verschwunden.«
»Verstehe.« Ruby versuchte, ihre verkrampften Schultern zu entspannen. Einfach verschwunden . »Was ist denn nun genau passiert, nachdem Laura mit mir bei Vivien aufgetaucht ist? Hat sie mich ihr einfach übergeben?« Wie einen Sack Kartoffeln, dachte sie und ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung breitete sich in ihr aus. »Bin ich adoptiert worden, war ich ein Pflegekind oder was?«
»Nicht adoptiert, nein.« Frances nestelte an ihrer Serviette.
Ruby seufzte. Nein, sie war nicht adoptiert, denn in ihrer Geburtsurkunde wurden Vivien und Tom Rae als ihre Eltern genannt. Sie sah Frances an. »Ich glaube, es ist besser, du erzählst mir auch den Rest der Geschichte«, sagte sie.
16. Kapitel
DORSET, APRIL 1978
V ivien parkte den Wagen am Hafen, stieg aus und hob den Eimer mit den Frühlingsblumen aus ihrem Garten aus dem Beifahrer-Fußraum ihres grünen Morris 1000. Eine frische Brise wehte, aber die Sonne brach gerade durch die Wolken, Bootsmasten knarrten im Wind, und am Himmel segelten kreischend die Möwen, die zweifellos von dem köstlichen Duft des Fisches, der hier vor einigen Stunden gefangen worden war, zum Hafen gezogen wurden.
Vivien schloss das Auto ab und ging über den rauen Betonboden, vorbei an Bergen warzenübersäter Krabbenkörbe und Fischernetze, die zum Trocknen ausgelegt waren. Das Wasser war glatt und leicht gekräuselt und der kleine Hafen voller Boote – Kajütboote und Segeljollen, bunt gestrichene Ruderboote und größere Fischerboote –, die sich sanft auf dem Wasser wiegten. Manche allerdings wie die Dusky Rose , die an dem verrosteten Ankerring an der Steinmauer vor dem Gemischtwarenladen vertäut war, hatten schon bessere Zeiten gesehen. Die dunkle Rose war mittlerweile ziemlich verblüht, dachte Vivien und betrachtete die abblätternde Farbe und das verrottete Holz darunter.
Viviens liebste Jahreszeit war der Winter, wenn die Touristen nach Hause fuhren und die Stadt sich ihre Seele zurückholte. Aber jetzt waren Frühlingsferien, daher wimmelte es vor Menschen, und die Buden am Hafen hatten Konjunktur.Vivien sah viele Familien, die Eis oder Bratfisch mit Pommes frites, kandierte Äpfel oder Zuckerwatte aßen. Andere waren unterwegs zur Spielhalle mit ihren Spielautomaten oder unternahmen einen Spaziergang am Strand. Wieder andere nahmen den windigen Klippenpfad in Angriff, der hinauf nach Warren Down und zum Leuchtturm führte. Am Kai sammelten Kinder mit Körben Seespinnen, und Möwen stießen herab, um den Köder zu stehlen.
Vivien ging zur alten Kapelle. Dort heiratete am Samstag ein junges Paar. Es waren Nachbarn von Frances, die keinen Penny hatten und sich keinen Floristen leisten konnten. Daher hatte Frances sie gebeten, ein paar Frühlingsblumen aus ihrem Garten hinüberzubringen. In Viviens Garten wuchsen Unmengen blühender Narzissen. Sie hatte unzählige davon geschnitten, aber trotzdem war in den dichten Büscheln, die neben ihrem Gartenweg und vor dem Haus wuchsen, kaum zu erkennen, dass etwas fehlte. Vivien freute sich, dass sie einspringen konnte, denn die beiden waren ein sympathisches Paar, und in dieser Kleinstadt half man einander, wenn man konnte.
Der Eimer war ziemlich schwer, obwohl sie nicht allzu viel Wasser hineingetan hatte. Er schwang leicht in Viviens Hand, als sie über den Strand mit seinen rötlichen Steinen auf die alte wesleyanische Kapelle zuging. Das Wasser schwappte von einer Seite zur anderen, und die kleinen, hellgelben Köpfchen der Narzissen nickten im Takt dazu. Der süße, betörende Duft der Blumen stieg zu Vivien auf und mischte sich mit dem Meeresgeruch des Hafens und des Ozeans.
Hochzeiten und Familien … Viviens Gedanken schweiften ab. Einen Moment lang stand sie an dem Weg, der hinter dem Kieselstrand von Chesil Beach entlangführte. Hinterden hoch aufgespülten Steinen – der natürlichen Begrenzung zum Meer
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