Julias Geheimnis
Schiebetür befanden sich ein kompakter kleiner Herd und ein Spülbecken mit Unterbauschränken. Auf dem Gasherd stand ein Wasserkessel, und auf der Arbeitsplatte lagen ein Brotlaib und ein Messer. An den Fenstern hingen fröhliche, mit knalligen Mustern bedruckte Vorhänge. Auf der Bank, auf der Julio saß, lagen Kissen, und neben der offenen Tür lehnte eine Gitarre an der Wand. Aber wo steckte Ruby? Sie lag schlafend in ihrem Korb, der auf dem vorderen Beifahrersitz stand.
»Wir haben uns gefragt, ob Sie das neulich ernst gemeinthaben, Vivien.« Laura trug heute ein langes blaues Kleid und eine Kette aus bunten Hippie-Perlen um den Hals. In ihrem langen blonden Haar hatte sie einen Kranz aus Gänseblümchen festgesteckt. Sie sah aus, als käme sie geradewegs aus Woodstock – ein echtes Blumenkind der sechziger Jahre. Vivien lächelte nachsichtig.
»Was denn?« Wieder sah Vivien zum Beifahrersitz. Es fiel ihr schwer, Ruby nicht anzustarren. Sie wirkte so friedlich, so zufrieden.
»Dass Sie auf das Baby aufpassen würden.«
»Oh.« Tom gegenüber hatte Vivien ihr Angebot nicht erwähnt, denn sie hatte nicht geglaubt, dass Laura darauf zurückkommen würde. Sie hatte ihm von ihrem Besuch erzählt, doch sobald sie auf das Kind gekommen war, hatte er nichts mehr hören wollen. Und in seinem Blick hatte ein warnender Ausdruck gelegen. Seitdem hatte sie Laura ohnehin nicht mehr gesehen. Aber sie hatte sich vorgenommen, die beiden jungen Leute zum Abendessen einzuladen, wenn sie Laura treffen sollte. Pearl war eine reizende Frau und gute Nachbarin gewesen. Das war das Mindeste, was Vivien tun konnte. Sie hatte sich allerdings gefragt, was die beiden vorhatten und wie lange Laura noch bleiben würde, nachdem das Haus nun zum Verkauf stand. Sie kam ihr vor wie jemand, der nirgendwo besonders lang bleibt. Sie war ein Freigeist, eine Vagabundin.
»Könnten Sie sie heute Nachmittag nehmen?«
»Heute Nachmittag?« Das war sehr kurzfristig.
»Ja.« Laura warf Julio einen Blick zu, doch er zuckte nur die Achseln. Ruby war schließlich nicht sein Kind. Dieses Leben in einem Campingbus war bestimmt für keinen von ihnen einfach.
»Das mache ich gern«, murmelte Vivien. Sie konnte sich ja schlecht weigern. Außerdem machte sie es wirklich gern.
»Toll.« Laura öffnete die Beifahrertür, nahm den Korb und gab ihn ohne weitere Umstände Vivien.
»Ach, du meinst sofort?« Vivien hatte angenommen, man müsse Vorkehrungen treffen, wenn man sein Kind bei jemandem ließ. Dass Laura Ersatzkleidung einpacken, Milchfläschchen vorkochen, Windeln, Creme und alles Mögliche zusammensuchen müsste. Doch anscheinend war dem nicht so. Sie blinzelte.
Julio sagte etwas auf Spanisch.
Laura reagierte nicht. »Ihr ganzes Zeug ist im Korb«, erklärte sie.
»Oh. Gut.« Vivien drückte den Korb an den Körper. »Ähem, wann holst du sie ab? Oder soll ich sie wieder herbringen?« Sie sah auf die kleine Ruby hinunter, die sich im Schlaf regte.
Laura zuckte die Achseln, als wäre es ihr egal. »Wir holen sie ab«, sagte sie dann. »Irgendwann später, okay?«
»Also, okay.« Das war keine sehr präzise Zeitangabe.
So ging sie mit einem Baby in einem Korb auf die alte Kapelle zu. Fünf Minuten vorher war sie noch allein gewesen. Noch einmal sah Vivien auf das Kind hinunter. Aber Ruby schlief immer noch und war sich des Umstands, dass die Verantwortung für ihr Wohlergehen soeben an eine Fremde übertragen worden war, nicht bewusst. Wann musste sie das nächste Mal gefüttert werden? Vivien hatte vergessen zu fragen. Aber andererseits argwöhnte sie, dass Laura das vielleicht auch nicht gewusst hätte. Bestimmt fütterte sie das Baby einfach, wenn es hungrig war. Dann würde Vivien es eben genauso halten.
Aber sie musste auch noch die Blumen arrangieren, bevor sie mit Ruby nach Hause fuhr.
Im Inneren der Kapelle war es kühl und ruhig. Der Geruch von Wachskerzen mischte sich mit dem Duft von Holz, Weihrauch und feuchtem Stein. Vorsichtig ging Vivien über die alten Steinplatten auf den einfachen Altar zu, auf dem nur ein Kreuz stand. Sie holte tief Luft.
Ob das Baby es auch spürte? Vivien lächelte und setzte den Korb zärtlich auf die vorderste Bank. »Bleib einen Moment hier, Kleine«, flüsterte sie dem schlafenden Kind zu. »Ich brauche nicht lange.«
Sie ging den Blumeneimer holen, den sie auf der Türschwelle stehengelassen hatte, und sah sich nach den Vasen um, die Frances mitbringen wollte. Abgesehen von den verblichenen
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