Julias Geheimnis
war nicht immer alles schwarz oder weiß. Das hatte sie durch ihre Arbeit gelernt, durch das Recherchieren für ihre Artikel. Es gab immer auch Grauabstufungen. Man musste sich umhören, eine andere Meinung einholen, sich nicht nur eine Seite der Geschichte anhören.
Ruby beugte sich über den Tisch. »Hat nicht jeder das Recht auf die Wahrheit, Frances?«
»Vielleicht.« Frances hatte aufgegessen und legte jetzt Messer und Gabel beiseite. »Obwohl es auch darauf ankommt, wie viele Menschen dabei womöglich verletzt werden, nicht wahr, meine Liebe?«
War es so? Ruby war sich nicht so sicher. Täuschung führte gewöhnlich zu Misstrauen. Ehrlichkeit konnte wehtun, aber wenigstens konnte man weitermachen und die Entscheidungen über sein Leben in Kenntnis sämtlicher Fakten treffen.
Frances bestellte Kaffee für sie beide.
»Ich weiß es zu schätzen, dass du heute Abend hergekommen bist und mir die Geschichte erzählt hast.« Ruby rührte ihren Kaffee um und nahm einen Schluck. Er war stark und bitter.
»Vivien hat ein paar Monate vor dem Unfall mit mir geredet«, sagte Frances nachdenklich. »Es hat sie belastet. Ich bin übers Wochenende hier gewesen, und wir haben uns auf einen Kaffee getroffen.«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Ruby.
»Wir haben über dich gesprochen. Sie sagte, wenn ihr etwas zustoßen würde und du fragen solltest, sollte ich dir alles erzählen, was du wissen müsstest.« Frances seufzte. »Ich habe sie gefragt: ›Wie kommst du auf die Idee, dass ich noch da sein werde und du nicht?‹ – ›Keine Ahnung, Fran‹, hat sie gesagt. ›Wer weiß schon, was hinter der nächsten Ecke auf uns wartet?‹« Ruby nickte. Das stimmte wohl.
»Trotzdem habe ich immer geglaubt, sie würde es dir eines Tages selbst sagen«, fuhr Frances fort. »Ob Tom wollte oder nicht.«
Vielleicht hatte sie keine Gelegenheit mehr dazu gehabt.Vielleicht hatte sie es aufgeschoben, bis es zu spät gewesen war.
Ruby traten die Tränen in die Augen. »Ich habe noch ein paar Fragen«, flüsterte sie.
»Frag nur. Ich helfe dir, wenn ich kann.«
»Was ist danach passiert?« Vivien hatte das Baby der Tochter ihrer Freundin gehütet, und plötzlich war sie allein für das Wohl des Kindes verantwortlich gewesen. Wie hatte sie sich gefühlt? Wie hatte sie es vor sich gerechtfertigt, dass sie dieses Kind als ihr eigenes großziehen wollte? Ruby musste noch so viel mehr wissen.
20. Kapitel
DORSET, MAI 1978
N ach zwei Wochen war das alltägliche Leben mit Ruby bereits Routine. Es hatte mit einem verschwörerischen Blick begonnen und sich dann langsam eingespielt.
Zu Anfang nahm sich Vivien auf der Arbeit nicht frei. Sie nahm Ruby mit auf die Post und fütterte und wickelte sie in ihren Pausen. Glücklicherweise sehnte sich Penny schon seit Jahren nach einem Enkelkind und war entzückt darüber, ein Baby um sich zu haben. Vivien erklärte ihr, Ruby sei die Tochter einer guten Freundin; der Mutter gehe es gar nicht gut, und sie hätten die Kleine deswegen für einige Zeit aufgenommen. »Sie sind wie geschaffen dafür, Mutter zu sein, Liebes«, hatte Penny gemeint und ihr einen verständnisvollen Blick zugeworfen. »Und sie macht überhaupt keine Umstände, die arme Kleine.«
Frances kannte als Einzige die Wahrheit. Vivien hatte sie ihr eines Nachmittags gestanden, als sie unerwartet vorbeikam und Vivien dabei antraf, wie sie das Baby badete, dasselbe Kind, das sie in der alten Kapelle gefüttert hatte. »Oh, Viv«, hatte sie gesagt. »Pass nur auf.« Es war fast, als hätte sie geahnt, was kommen würde.
Wenn Tom nicht arbeitete, sprang er ein und tat seinen Teil, und am Wochenende kümmerten sie sich gemeinsam um Ruby. Wie eine richtige Familie, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr – vielleicht ihre eigene. Wie eine richtige Familie …
Zuerst lebte sie in einem Zustand ständiger Angst und rechnete damit, dass Laura zurückkommen würde. Manchmal, wenn sie Ruby die Flasche gab, hielt sie die Kleine ganz fest, als sehe sie schon den Moment kommen, in dem sie fort sein würde. Wie würde sie damit fertig werden? Sie würde Ruby mit einem Lächeln an ihre leibliche Mutter zurückgeben und so tun müssen, als breche es ihr nicht das Herz.
Doch nach einiger Zeit begann Vivien, sich zu entspannen. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Laura war jung, unverantwortlich und verliebt in einen Jungen, der sich nicht für das Kind eines anderen Mannes interessierte. Vivien war für sie vielleicht wie ein Geschenk des
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