Julias Geheimnis
Schwester auch Julia schon einmal ins Gedächtnis gerufen hatte, eine Stütze der Gesellschaft.
»Danke, Doktor«, sagte die Frau und sank dann ermattet in die Kissen. Schwester Julia war sicher, dass sie Beruhigungsmittel bekommen hatte. Natürlich war sie dankbar. Wie hätten diese Frauen, die so wenig hatten, sich auch die Kosten einer Beerdigung leisten können?
Nachdem die Frau eingeschlafen war, verließ Schwester Julia die Station. Sie kam an dem Einzelzimmer vorbei, das für die señora reserviert gewesen war, die Freundin von Dr.López. Die Tür stand offen, und der Raum war leer. Sie war bereits entlassen worden.
Was sollte sie machen? Gab es nichts, was sie tun konnte? Gab es denn niemandem, dem sie davon erzählen konnte? Schwester Julia dachte lange und eingehend darüber nach, und als sie an diesem Abend in die heitere Ruhe von Santa Ana zurückkehrte, betete sie zu Gott, er möge sie leiten.
Sie hatte versucht, mit der ehrwürdigen Mutter zu sprechen, und sie hatte versucht, mit dem Arzt zu reden. Wohin konnte sie sich noch wenden? Wer würde ihr zuhören? Es sah aus, als könne sie nur eines tun. Schwester Julia hielt es in ihrem Notizbuch fest. Sie schrieb jeden Namen nieder und begann langsam zu begreifen.
22. Kapitel
R uby nahm die Abkürzung, einen Fußweg, der zu einer Reihe von Steinhäusern mit langen, schmalen Gärten führte. Pridehaven war einmal eine Seilerstadt gewesen, und damals hatten die Gärten einen Zweck erfüllt. Sie versuchte, dem bevorstehenden Abend ein wenig begeisterter entgegenzusehen. Es war nur ein Abendessen bei Freunden, doch sie fühlte sich ein wenig angeschlagen. Wahrscheinlich stand sie nach dem, was Frances ihr erzählt hatte, noch immer unter Schock.
Als sie die alte Kirche erreichte, blieb sie stehen und zog die Fotos aus der Handtasche. Sie trug sie mittlerweile immer mit sich herum, denn sie hatte immer wieder das Bedürfnis, sie anzusehen. Mutter und Kind … Laura hielt sie im Arm. Aber hielt sie sie auch voller Liebe? Hatte Laura sie geliebt? Und wenn ja: Warum hatte sie Ruby weggegeben?
»Tut es dir leid, dass du nach alldem gefragt hast?«, hatte Frances gefragt, als sie am Ende ihrer Geschichte angelangt war, und sie über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg besorgt angesehen. »Würdest du die Uhr gerne zurückdrehen? Wäre es dir lieber, du hättest nichts davon erfahren?«
Tat es ihr leid? In der frühen Abendsonne leuchtete die Kirchenmauer in einem dunklen Gold. Ruby berührte den Stein. Er war so porös wie ein Gebäckstück und fühlte sich an, als würde er zerkrümeln, wenn man ihn in ein Gewitter tauchte. Und doch stand das Gebäude seit Jahrhunderten hier, was irgendwie beruhigend war.
Nein, entschied sie, obwohl ihre Gefühle widersprüchlich waren. Sie verstand, dass sich ihre Eltern so entschieden hatten, um sie zu schützen. Das hatten sie immer getan, sie beschützt. Trotzdem konnte sie kaum glauben, dass ihre gesetzestreuen Eltern bei der Registrierung ihrer Geburt tatsächlich falsche Angaben gemacht hatten, dass sie wirklich behauptet hatten, ihre leiblichen Eltern zu sein. Sie seufzte. Und sie konnte ihnen noch immer nicht verzeihen, dass sie sie in einer so wichtigen Angelegenheit getäuscht hatten.
Ruby ging weiter. Und ja, sie war wütend, weil sie die Wahrheit nicht früher erfahren hatte. Sie war umso wütender, als sie nicht wusste, wohin sie mit ihren Emotionen sollte, weil sie mit keinem Elternteil darüber streiten konnte. Die Menschen, an die sie am festesten geglaubt hatte, hatten sie hinters Licht geführt.
»Ich musste es wissen«, hatte sie zu Frances gesagt.
»Und was hast du jetzt vor?«
»Nun ja …« Wie Frances richtig erkannt hatte, war dies für Ruby noch nicht das Ende der Geschichte. »Ich werde versuchen, Laura zu finden«, erklärte sie. Sie wollte es nicht nur aus Neugierde tun oder um Lauras Version der Geschichte zu hören. Dieses Gefühl ging tiefer. Ruby mochte Angst davor haben, aber sie konnte nicht davor weglaufen. Während Frances ihr die Geschichte erzählt hatte, war in Ruby der Entschluss gewachsen, dass sie ihre leibliche Mutter treffen wollte. Und sie wollte auch herausfinden, wer ihr leiblicher Vater war. Sie war nicht die, für die sie sich immer gehalten hatte. Aber wer war sie? Sie musste es herausfinden.
»Ich dachte mir, dass du das sagen würdest.« Frances wirkte besorgt. »Aber es wird nicht einfach werden.«
»Ich weiß.« Ruby wusste nicht einmal, wo sie
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