Julias Geheimnis
Lüge? Ganz sicher war sie sich nicht. Sie hatte versucht, nicht an ihm zu zweifeln. Im Lauf der Jahre hatte sie sich so sehr darum bemüht. Sie wusste, dass er nur das Beste wollte. Deswegen blieb sie auch an der Klinik. Deswegen, und weil sie ihre Arbeit fortführen und die Frauen unterstützen wollte. Sie sprach ein lautloses Gebet. Möge Gott mir vergeben .
Er nahm ihre Hand und tätschelte sie. Doch seine Finger waren nicht warm, wie sie erwartet hätte, sondern kühl und glatt wie Marmor. »Sie sind ein braves Mädchen«, sagte er. »Ich wusste, dass Sie mich verstehen würden.«
Schwester Julia sah die Frau noch ein paar Mal, wenn sie in die Klinik kam. Doch sie betreute sie nicht und wurde nicht zu ihren Untersuchungen hinzugebeten.
»Die señora ist eine persönliche Freundin«, erklärte ihr Dr. López nach einem solchen Besuch. »Mehr kann ich Ihnen nicht verraten. Doch seien Sie versichert, dass sie ein guter Mensch ist. Sie hat schon oft bedürftige Kinder für kurze Zeit in Pflege genommen, um ihrem Geistlichen einen Gefallen zu tun. Sie tut es sehr oft sogar ohne materielle Entschädigung.« Er zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück und ergriff mit beiden Händen sein Kruzifix. »Sie wird ihren Lohn im Himmel erhalten«, murmelte er. »Vielleicht sogar schon auf Erden.«
»So ist es, Doktor«, sagte Schwester Julia. Sie war froh darüber, dass die señora ein guter Mensch war. Aber ansonsten ging sie die Sache nichts an. Ihre Sache war es, zu tun, was sie konnte, um sowohl den Frauen als auch den Kindern zu helfen. Dies, so hoffte sie, war wahrhaft Gottes Werk.
Als es Zeit für die angebliche Entbindung der señora war, kam sie in die Klinik, wurde aber nicht auf der Station aufgenommen, sondern bezog ein Einzelzimmer. Schwester Julia wurde nicht gebeten, ihr zur Seite zu stehen. Der Einzige, der sich um sie kümmerte, war Dr. López.
Als Schwester Julia am nächsten Morgen in der Klinik eintraf, hörte sie, dass es einen weiteren Todesfall gegeben hatte. Herrje . So viele Kinder starben. Was hatte das zu bedeuten? Sie mochte es sich gar nicht vorstellen. Sie konnte nur vermuten, dass sich die Situation in ihrem geliebten Heimatland immer weiter verschlechterte, dass Unterernährung und Krankheiten um sich griffen und die Säuglingssterblichkeit stieg.
Auch Dr. López bereitete das Sorgen. In letzter Zeit hatte er häufiger angeordnet, Frauen vor der Geburt mit Medikamenten ruhigzustellen, besonders solche, die zu Hysterie neigten oder überspannt wirkten. »Das wird den Vorgang sehr erleichtern«, meinte er. Die Frage war nur, für wen.
Als Schwester Julia an ihr Bett trat, schluchzte die Frau, die das Kind geboren hatte, immer noch. Sie hatte gerade erst erfahren, dass ihr Sohn tot zur Welt gekommen war.
»Wir haben versucht, ihn wiederzubeleben, doch es sollte nicht sein«, flüsterte der Arzt Schwester Julia zu.
Er wandte sich der Frau zu, die sich an seinen Kittel klammerte, als habe er die Macht, ihr Kind von den Toten zurückzuholen. »Bitte, bitte …«, flehte sie. Sie sprach undeutlich und schien kaum wahrzunehmen, was um sie herum vorging.
Schwester Julia konnte es kaum mitansehen. Sie strich der Frau übers Haar und versuchte, sie zu trösten. Dieser Pflicht musste sie in letzter Zeit allzu oft nachkommen, und das ängstigte sie.
»Gott hat ihn erwählt.« Die Stimme des Arztes bebte vor Rührung. »Er hat ihn erwählt, und Er hat ihn zu sich in den Himmel genommen.«
»Aber was soll ich tun?«, schrie die Frau. »Was soll ich jetzt machen?«
»Machen Sie sich keine Gedanken, meine Liebe«, sagte der Arzt. »Wir werden uns um alles kümmern. Sie brauchen sich um nichts Sorgen zu machen.«
Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen? Dr. López tat sicher sein Bestes, aber er hätte auch ein wenig taktvoller vorgehen können. Die arme Frau hatte gerade ihr Kind verloren.
»Wir richten sogar die Bestattung aus und übernehmen auch die Kosten dafür«, erklärte er. »Sie müssen sich darauf konzentrieren, wieder zu Kräften zu kommen.«
Schwester Julia seufzte. Sie wusste, dass der Arzt es gern hatte, wenn alles rasch und ohne übertriebenes Aufheben erledigt wurde. Seiner Meinung nach war es so am besten für alle, die damit zu tun hatten. Er riet den Müttern sogar, nicht zur Bestattung ihres eigenen Kindes zu gehen. Die meisten Mütter wagten es nicht, Einwände dagegen zu erheben. Das war wenig erstaunlich, schließlich war er Arzt und, wie die ehrwürdige Mutter
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