Julias kleine Sargmusik
einen Blick zu. Der Inspektor nickte mir zu. Er würde dafür sorgen, dass Mrs. Landers nicht durchdrehte. So konnte ich mich um Julia kümmern.
Ich bewegte mich auf sie zu.
Sehr vorsichtig ging ich, auch möglichst lautlos und dabei auf Zehenspitzen. Jedes Geräusch wollte ich vermeiden. Sie sollte mich erst wahrnehmen, wenn ich vor ihr stand.
Die Hälfte der Distanz hatte ich überwunden, als Julia Landers den Bogen in die Höhe hob. Abrupt stoppte ihr Spiel!
Auch ich blieb stehen und empfand die plötzliche Stille fast noch schlimmer als das Spiel der Geige. Julia hatte sich nicht bewegt. Sie blieb steif sitzen. Nach einigen Sekunden der Ruhe sanken ihre Hände nach unten.
Mit ihnen Geige und Bogen. Langsam drehte sie den Kopf, schaute mich an, und ich hatte das Gefühl, von einem gläsernen Blick getroffen zu werden. Menschliches hatte er meiner Ansicht nicht an sich. Sie sah, ihr Mund zuckte, und sie flüsterte mir die Worte zu, die sie auch dem Polizisten gesagt haben musste.
»Berühre keine Tote, Fremder!«
Es war ein Satz, der mir Unbehagen einflößte. Ich schüttelte mich sogar, aber ich wollte nicht gehorchen, sondern ging weiterhin auf sie zu. Dabei streckte ich schon die Hand aus.
»Nein!« hauchte sie. »Nicht…«
Einen halben Schritt von ihr entfernt, blieb ich stehen. »Wer bist du?« fragte ich.
»Ich bin Sarina.«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. »Aber du bist Julia Landers.«
»Nein, Sarina.«
»Wieso?«
»Man hat mich so genannt.«
»Mrs. Landers, nicht«, hörte ich Suko flüstern.
»Doch, Doch!« schluchzte die Frau. »Ich muss mit ihr sprechen. Du bist Julia, meine Tochter.«
»Nein, ich bin Sarina.«
Es war eine Antwort, die Helen Landers einen Teil ihrer Kraft raubte. Sie schluchzte und wollte sich aus Sukos Griff befreien, weil sie einfach mit ihrer Tochter reden musste.
Mein Partner hielt sie fest. Es war am besten. Wir wussten nicht, wie Julia als Fremde reagieren würde.
Suko ahnte, was ich vorhatte. Ich wollte mehr aus diesem seltsamen Mädchen herausbekommen. Vor allen Dingen etwas über Sarina. Vielleicht hatte sie so einmal geheißen. In einem anderen Leben, in einem anderen Land, in einer fernen Zeit.
Möglicherweise in Atlantis…
Es wäre fantastisch gewesen, aber auch gefährlich, da brauchte ich nur an den verschwundenen Polizisten zu denken.
»Weshalb spielst du auf deiner Geige, Sarina?« fragte ich sie. »Du musst doch einen Grund haben.«
»Ich hole sie…«
»Wen?«
»Die Vergessenen. Wenn sie meine Musik hören, werden sie kommen und die alten Zeiten heraufbeschwören. Sie waren verflucht, sie wurden nicht mehr geachtet, doch ich liebte sie. Deshalb hole ich sie zurück. Niemand kann daran etwas ändern.«
Suko und ich schauten uns an. Wir wussten nicht, wovon Julia sprach. Ich sah, dass mein Partner Helen Helen Landers fest umklammert hielt. Sie wand und drehte sich in dem Griff, wollte ihn sprengen. Ihr Gesicht war mit Schweiß bedeckt.
»Verdammt, lassen Sie mich zu ihr! Ich muss zu meiner Tochter. Sie ist keine andere. Es ist Julia. Meine Tochter Julia, ich will zu ihr. Lass mich.«
Ich schüttelte den Kopf. Suko nickte. Wir wussten selbst, was wir zu tun hatten. Besonders ich.
Julia/Sarina hatte mich zwar gewarnt, doch daran wollte ich mich nicht halten. Ich streckte meinen Arm aus, spürte plötzlich das seltsame Kribbeln, das über meine Hand lief und erst oben an der Schulter endete. Gleichzeitig wandte mir Julia ihr Gesicht zu.
»Keine Tote!« hauchte sie. »Du darfst keine Tote berühren…« Während dieser Worte wurde sie ebenfalls zu einem Hauch. Auf einmal konnte ich durch ihren Körper blicken und sah auf die Wand hinter ihr und natürlich auf das Fenster. Vor unseren Augen verschwand Julia Landers in eine andere, für uns nicht sichtbare Welt.
»Juliaaa…!« Helen Landers war verzweifelt. Sie brüllte den Namen ihrer Tochter.
Suko konnte sie einfach nicht mehr halten. An mir vorbei stürmte Helen und riss das Fenster auf. Sie blickte in den Garten, öffnete abermals den Mund und schrie den Namen ihrer Tochter in den grauen regnerischen Tag hinaus.
Das Echo ihrer Stimme verwehte über den Gärten und den Dächern der anderen Häuser. Eine Antwort bekamen wir alle drei nicht. Helen Landers war fertig. Sie lag über der Fensterbank, der Oberkörper schaute nach draußen, während sich ihr Unterkörper noch innerhalb des Zimmers befand und sie die Füße fest auf den Boden gestemmt hatte. Ein paar Mal schluchzte
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