Julie oder Die neue Heloise
strengte er sich an, viel zu sprechen, ohne Juliens mit einem Worte zu gedenken, er brachte Fragen, die ich schon zehnmal beantwortet hatte, immer wieder von Neuem vor. Er wollte wissen, ob wir schon auf französischem Boden wären, und gleich darauf fragte er, ob wir bald in Vevay sein würden. Das Erste, was er auf jeder Station thut, ist, daß er einen Brief anfängt, den er einen Augenblick nachher zerreißt oder zerknittert! Ich habe ein Paar von diesen Anfängen aus dem Feuer gerettet, an denen Sie den Zustand seiner Seele erkennen werden. Ich glaube jedoch, daß er auch noch einen ganzen Brief glücklich zu Stande gebracht hat.
Die Heftigkeit, welche sich in diesem ersten Symptome verräth, ließ sich leicht voraussehen, aber was sie für Folgen haben und wie lange sie anhalten wird, vermag ich nicht zu sagen; denn das hängt von mancherlei zusammenwirkenden Ursachen ab, von dem Charakter des Menschen, von der Art seiner Leidenschaft, von Umständen, die zufällig eintreten, von tausend Dingen, die keine menschliche Klugheit vorherbestimmen kann. Ich hafte für Wuthausbrüche, nicht aber für alle Wirkungen der Verzweiflung, denn, was man auch thun möge, immer ist doch der Mensch Herr über sein Leben.
Indessen schmeichle ich mir, daß er sich selbst und meine Dienste achten werde, und zwar mache ich mir dabei weniger auf den Eifer meiner Freundschaft, der zwar nicht gespart werden soll, als auf den Charakter seiner Leidenschaft und den seiner Geliebten Rechnung. Die Seele kann sich nicht lebhaft und lange mit einem Gegenstande beschäftigen, ohne Eindrücke von ihm anzunehmen und durch ihn bestimmt zu werden. Juliens außerordentliche Milde muß die Hitze der Glut, welche von ihr angefacht ist, mäßigen, und ebenso zweifle ich nicht daran, daß die Liebe eines so lebhaften Mannes auch ihr hinwieder ein wenig mehr Rührigkeit giebt, als ohne ihn von Natur ihr beiwohnen würde.
Ich glaube auch auf sein Herz rechnen zu dürfen: es ist zu Kampf und Sieg geschaffen. Eine Liebe wie die seinige ist nicht sowohl eine Schwachheit, als eine unrecht angewendete Kraft. Wohl möglich, daß eine so heiße und unglückliche Liebe auf eine Zeit, vielleicht sogar auf immer, einen Theil seiner Fähigkeiten hinwegzehre; aber sie ist an sich selbst ein Beweis von der Güte derselben und von dem Vortheile, den er aus ihnen zum Anbau der Weisheit ziehen könnte; denn die erhabene Vernunft erhält ihre Nahrung aus derselben Kraft der Seele, welche auch die mächtigen Leidenschaften gebiert, und man kann der Philosophie nicht anders würdig dienen, als mit demselben Feuer, das man für eine Geliebte nährt.
Sein Sie überzeugt, liebenswürdige Clara, daß ich nicht minderen Antheil als Sie an dem Schicksale dieses unglücklichen Paares nehme; nicht aus einem Gefühle von Mitleid, was vielleicht nur eine Schwachheit wäre, sondern in Betrachtung der natürlichen Ordnung und Gerechtigkeit, die da erheischen, daß Jeder die für ihn selbst und für die Gesellschaft vortheilhafteste Stellung einnehme. Diese beiden schönen Seelen gingen für einander bestimmt aus den Händen der Natur hervor; in süßer Vereinigung im Schooße des Glückes würden sie, bei der Freiheit, ihre Kräfte zu entfalten und ihre Tugenden auszuüben, der Welt mit ihrem Beispiele vorgeleuchtet haben. Warum muß nun ein unsinniges Vorurtheil die ewigen Bestimmungen umstoßen und die Harmonie denkender Wesen zerreißen? Warum soll der Dünkel eines hartherzigen Vaters so das Licht unter den Scheffel stellen, und unter Thränen sich härmen lassen zwei zärtliche, mildthätige Herzen, die dazu geschaffen sind, fremde Thränen zu trocknen? Ist nicht das eheliche Band das freieste ebenso wie das heiligste der Bande? Ja, alle Gesetze, welche es verengen, sind ungerecht; alle Väter, welche es zu knüpfen oder zu zerreißen wagen, sind Tyrannen. Dieses keusche Band der Natur kann weder einer oberherrlichen Macht noch der väterlichen Gewalt unterworfen sein, sondern nur dem Willen des Vaters unser Aller, der die Herzen zu lenken weiß, und, indem er ihnen gebietet, sich zu vereinigen, sie dazu zwingen kann, sich zu lieben.
[In manchen Ländern wird bei den Verheirathungen so sehr nur auf Stand und Vermögen gesehen, statt die Natur und die Herzen zu Rathe zu ziehen, daß nichts weiter nöthig ist als der Mangel jener ersteren beiden, um die glücklichsten Verbindungen zu verhindern oder auch zu brechen, ohne Rücksicht auf die verlorene Ehre der unglücklichen
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