Julie oder Die neue Heloise
Bild meines vergangenen Glückes zurückzurufen. Warum muß der Freude, einen so kostbaren Schatz zu besitzen, sich solche grausame Bitterkeit beimischen! O wie heftig mahnt es mich an die Zeiten, die nicht mehr sind! Ich glaube, indem ich es ansehe, dich noch zu sehen, ich glaube mich zurückversetzt in die köstlichen Augenblicke, deren Erinnerung jetzt das Unglück meines Lebens und die der Himmel mir geschenkt hat und geraubt in seinem Zorne. Ach! ein Augenblick enttäuscht mich, aller Schmerz der Trennung kehrt wieder und ist bitterer als zuvor, indem er mir den Wahn nimmt, der ihn hingehalten hatte, und ich bin gleich jenen Unglücklichen, deren Martern man nur unterbricht, um sie ihnen desto fühlbarer zu machen. Mein Gott! Welche Flammenströme trinken meine gierigen Augen in diesem unerwarteten Gegenstande! O, wie ruft er wieder wach im Grunde meines Herzens alle die ungestümen Regungen, die deine Gegenwart sonst erweckte! Julie! wenn es wahr wäre, daß es deinen Sinnen die süße Raserei, die Täuschung der meinigen durch Zauber mittheilen könnte! .... Aber warum sollte das nicht sein? Warum sollten Eindrücke, welche die Seele mit so großer Thätigkeit aufnimmt, nicht so weit reichen als sie selbst? Ach, liebe Geliebte, wo du seiest, was du thuest in dem Augenblicke, da ich diesen Brief schreibe, in dem Augenblicke, da dein Bildniß Alles empfängt, was dein abgöttischer Liebhaber an deine Person richtet, fühlst du nicht dein liebliches Gesicht von Thränen der Liebe und der Wehmuth überströmt? fühlst tu nicht deine Augen, deine Wangen, deinen Mund, deinen Busen gedrückt, gepreßt, mit meinen heißen Küssen bedeckt? fühlst du dich nicht ganz in Flammen gesetzt von dem Feuer meiner brennenden Lippen? .... Himmel! was höre ich? Es kommt Jemand, .... Ha! hinweg, in Verschluß meinen Schatz! …. Ein Ueberlästiger .... Verwünscht sei der Unmensch, der mir mein süßes Entzücken stört! …. Möge er nie lieben …. oder — entfernt leben von dem, was er liebt!
Dreiundzwanzigster Brief.
Juliens Liebster an Frau von Orbe.
An Sie, reizende Cousine, habe ich meinen Bericht über die Oper abzustatten, denn obschon Sie in Ihren Briefen Nichts davon erwähnen und Julie Sie auch nicht verrathen hat, sehe ich doch, von wannen ihr ihre Neugier kommt. Ich war einmal dort, um die meinige zu befriedigen; noch zweimal bin ich Ihretwegen hingegangen. Damit, bitte ich schön, lassen Sie mich denn nach diesem Briefe entbunden sein. Ich könnte wohl, wenn Sie es beföhlen, wieder hingehen, gähnen, mich quälen, umkommen; aber wach und aufmerksam dabei zu bleiben, ist mir nicht möglich.
Bevor ich Ihnen meine eigene Meinung über diese berühmte Schaubühne sage, will ich Ihnen das allgemeine Urtheil darüber, das hier im Schwange ist, mittheilen. Das Urtheil der Kenner wird dem meinigen zur Berichtigung dienen, wenn ich mich etwa täusche.
Die Pariser Oper gilt in Paris für das prachtvollste, genußreichste, bewundernswürdigste Schauspiel, das je menschliche Kunst erdacht hat Es ist, sagt man, das glänzendste Monument der Magnificenz Ludwig's XIV. Es hat nicht Jeder so sehr die Freiheit, als Sie vielleicht glauben, seine Meinung über diesen hochwichtigen Gegenstand abzugeben. Man darf hier über Alles disputiren, nur nicht über die Musik und die Oper; in diesem einzigen Punkte ist es gefährlich, sich ohne Verstellung zu äußern. Die französische Musik behauptet sich vermittelst einer äußerst strengen Inquisition, und das Erste, was allen Fremden, die hierher kommen, förmlich eingetrichtert wird, ist, alle Fremden seien darüber einig, daß es in der ganzen Welt nichts so Schönes weiter gebe, als die Pariser Oper. Es ist in der That wahr, daß die Gescheiteren dazu stillschweigen und sich nur unter sich darüber lustig zu machen wagen.
Indessen muß man gestehen, daß daselbst mit vielem Aufwandt nicht nur alle Wunder der Natur vorgestellt werden, sondern auch noch viele andere Wunder, die keines Menschen Auge je gesehen hat, und gewiß hat Pope an dieses wunderbarliche Theater gedacht bei der Schilderung jenes, auf welchen, man wie Kraut und Rüben durcheinander Götter, Kobolde, Ungethüme, Könige, Schäfer, Feen, Wuth, Freude, eine Feuersbrunst, eine Gigue, eine Schlacht und einen Ball sieht.
Dieses prächtige und herrlich geordnete Gemengsel wird so angesehen, als ob es das Alles wirklich enthielte, was es vorstellt. Wenn man einen Tempel erscheinen sieht, so wird man von heiliger
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