Julie oder Die neue Heloise
hingeführt wurden, die Sie nicht kennen sollten, oder denen Sie es wenigstens nicht überlassen sollten, Ihre Vergnügungen anzuordnen. In dem Vorhaben, diese Leute zu Ihren Grundsätzen zu bekehren, finde ich mehr gute Absicht als Klugheit: wenn Sie zu ernst sind, um ihr Kamerad zu sein, sind Sie doch zu jung, um ihr Mentor zu sein, und Sie sollten sich nicht darauf einlassen. Andere zu bessern, als bis Sie an sich selbst nichts mehr zu thun finden.
Ein zweiter noch schwererer und weit weniger verzeihlicher Fehler ist, daß Sie es vermocht haben, den Abend an einem Ihrer so wenig würdigen Orte zuzubringen und daß Sie nicht augenblicklich hinweggeeilt sind, sobald Sie gemerkt hatten, in was für einem Hause Sie sich befänden, Ihre Entschuldigungen in dieser Hinsicht sind kläglich. „Es war zu spät, um jetzt noch zurückzutreten!" als ob man an einem solchen Orte irgend eine Höflichkeitsrücksicht zu nehmen hätte, oder als ob die Höflichkeit jemals der Tugend vorgezogen werden dürfte und es je zu spät wäre, Unrecht zu meiden. Was das betrifft, daß Sie sich durch Ihren Widerwillen gesichert glaubten, so will ich nichts darüber sagen, der Ausgang hat Ihnen gezeigt, mit welchem Grunde. Seien Sie aber offner gegen Die, welche in Ihrem Herzen zu lesen versteht: die Scham war es, die Sie zurückhielt. Sie fürchteten, daß man sich über Sie lustig machen würde, wenn Sie gingen; der Augenblick des Auslachens machte Ihnen bange und Sie wollten sich lieber Gewissensbissen als dem Gespötte aussetzen. Wissen Sie wohl, welchen Grundsatz Sie bei dieser Gelegenheit befolgten? Einen solchen, der dem Laster den ersten Eingang öffnet in eine von Natur gute Seele, der die Stimme des Gewissens mit dem Schall der allgemeinen Meinung erstickt und die Kühnheit, Recht zu thun, durch Furcht vor Tadel unterdrückt. Mancher würde Versuchungen besiegen, der bösen Beispielen erliegt; mancher erröthet, sittsam zu sein und wird frech aus Scham, und solche falsche Scham verdirbt mehr züchtige Herzen, als es böse Neigungen thun. Davor besonders müssen Sie das Ihrige behüten: denn, was Sie auch thun mögen, die Furcht sich lächerlich zu machen, die Sie verachten, beherrscht Sie dennoch wider Ihren Willen, Sie würden eher hundert Gefahren Trotz bieten als einer Spötterei und man sah nie so viel Furchtsamkeit mit einer so unerschrockenen Seele gepaart.
Ich will hier nicht moralische Regeln gegen diesen Fehler auskramen, die Sie besser wissen als ich, ich will Ihnen nur ein Schutzmittel anempfehlen, das leichter und vielleicht zuverlässiger ist als alle philosophischen Betrachtungen, nämlich in Gedanken eine kleine Umstellung der Zeit zu machen und die Zukunft um einige Minuten vorauszunehmen. Hätten Sie sich bei diesem unseligen Souper gegen einen Augenblick Gespöttes von Seiten der Tischgenossen stark gemacht durch den Gedanken an den Zustand, in welchem sich Ihre Seele befinden würde, wenn Sie erst wieder auf der Straße wären: hätten Sie sich die innere Zufriedenheit im Voraus gedacht, die es Ihnen gewähren würde, den Fallstricken des Lasters entgangen zu sein, den Vortheil, gleich von Anfang an sich den Sieg zur Gewohnheit zu machen und dadurch auf die Dauer zu erleichtern, das Vergnügen, welches Sie in dem Bewußtsein des Sieges gefunden haben würden, die Freude, ihn mir zu schildern, meine eigene Freude darüber — ist es dann glaublich, daß das Alles nicht mächtiger gewesen wäre als eine augenblickliche Scheu, der Sie gewiß nicht würden nachgegeben haben, wenn Sie sich die Folgen lebhaft vorgestellt hätten? Dann auch, was ist es für eine Scheu, die Werth legt auf die Spöttereien von Menschen, deren Achtung keinen Werth hat? Unfehlbar würde Ihnen diese Erwägung für einen Augenblick falscher Scham, eine weit gerechtere, dauerndere Scham, Reue, Gefahr erspart haben, und, um Ihnen nichts zu verhehlen, Ihre Freundin hätte ein Paar Thränen weniger zu vergießen gehabt.
Sie wollten, sagten Sie, diesen Abend benutzen, um Ihr Geschäft als Beobachter zu treiben. Was für ein Amt! was für eine Aufgabe! o, wie machen michIhre Entschuldigungen schamroth Ihretwegen! Werden Sie nicht auch eines Tages neugierig werden, die Räuber in ihren Höhlen zu beobachten und zu sehen, wie sie es anstellen, um die Vorübergehenden auszuplündern? Wissen Sie denn nicht, daß es Dinge von so gehässiger Art giebt, daß es dem Ehrenmanne nicht erlaugt ist, sie auch nur mit anzusehen; daß der Zorn der Tugend das
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