Julie oder Die neue Heloise
nicht zu leiden? Erstlich ist hiermit der Stand der Frage verschoben; denn es kommt nicht darauf an, ob du leidest, sondern ob das Leben dir zu einem Uebel geworden ist. Sei es. Du leidest, du mußt suchen, des Leides ledig zu werden. Lass sehen, ob es zu diesem Ende nöthig ist, zu sterben.
Nimm einen Augenblick an, daß der natürliche Fortschritt der Seelenleiden dem der körperlichen Leiden gerade entgegengesetzt sei, wie die beiden Substanzen ihrer Natur nach einander entgegengesetzt sind. Jene wurzeln ein, verschlimmern sich mit der Zeit, und zerstören endlich diese sterbliche Maschine. Diese dagegen, äußerliche und vorübergehende Verstimmungen eines unsterblichen und einfachen Wesens, vergehen allmählig, und lassen es in seiner ursprünglichen Beschaffenheit zurück, die unwandelbar ist. Betrübniß, Ueberdruß, Trauer, Verzweiflung sind Schmerzen von kurzer Dauer, die sich nie im Gemüthe festwurzeln, und die Erfahrung straft jedesmal das bittere Gefühl Lügen, das uns unsere Leiden zu ewigen macht. Noch mehr: ich kann nicht glauben, daß die Laster, die uns bestricken, tiefer in uns haften, als unsere Bekümmernisse. Nicht nur denke ich, daß sie mit dem Leibe vergehen, dem sie ihren Ursprung verdanken, sondern ich zweifle gar nicht, daß schon ein längeres Leben hinreichen würde, um den Menschen zu bessern, und daß wir, wenn wir einige Jahrhunderte in Jugendkraft blüheten, gewiß lernen würden, daß es nichts Besseres giebt als die Tugend.
Doch davon abgesehen, da die meisten unserer leiblichen Uebel nur immer wachsen, so können heftige Schmerzen, wenn sie unheilbar sind, einen Menschen berechtigen, über sich zu verfügen; denn da der Schmerz alle seine Kräfte lähmt und das Uebel nicht gehoben werden kann, entgeht ihm der freie Gebrauch seines Willens und seiner Vernunft für immer; er hört vor seinem Tode auf, Mensch zu sein, und vollendet nur, indem er das Leben aufgiebt, die Vernichtung eines Leibes, der ihn hindert, und in welchem seine Seele schon nicht mehr heimisch ist.
Aber mit den Seelenschmerzen ist es nicht ebenso, da diese, wenn sie noch so heftig sind, stets ihre Heilung in sich tragen. In der That, was macht ein Uebel unerträglich? Seine Dauer. Die chirurgischen Operationen sind gemeinlich weit schmerzhafter als die Leiden, die durch sie beseitigt werden sollen, aber der Schmerz, den die Krankheit verursacht, wühlt unablässig fort, der, welchen die Operation verursacht, ist vorübergehend, und so zieht man diesen vor. Was bedarf es also der Operation bei Schmerzen, die an ihrer eigenen Dauer, die sie unerträglich machen würde, sterben? Ist es vernünftig, gewaltsam Curen gegen Uebel anzuwenden, die von selbst vergehen? Welches von den beiden Mitteln, sich von den nämlichen Leiden zu befreien, ist für Den vorzuziehen, der auf das Beständige hält, und die Jahre nur so gering anschlägt, als sie es verdienen, der Tod oder die heilende Zeit? Warte, und du wirst geheilt sein. Was verlangst du mehr?
Ach! das verdoppelt nur meinen Schmerz, daß ich denke, er könnte enden! .... Eitle Sophisterei des Schmerzes! Redensartohne Sinn, ohne Wahrheit und vielleicht nicht einmal ehrlich! Was für ein abgeschmackter Grund zur Hoffnungslosigkeit, Hoffnung zu haben, daß der Jammer enden werde
[Nein, Milord, man endet auf diese Art nicht seinen Jammer, man setzt ihm die Krone auf; man zerreißt das letzte Band, welches uns an das Glück fesselte. In dem Schmerze um das, was uns lieb war, hängt man noch durch den Schmerz selbst an dem Gegenstande des Schmerzes, und dieser Zustand ist weniger schrecklich, als an nichts mehr zu hängen.]
! Und selbst diese närrische Empfindsamkeit zugegeben, wer wollte nicht lieber den gegenwärtigen Schmerz noch einen Augenblick durch die Gewißheit, daß er enden wird, steigern, wie man eine Wunde zur Eiterung bringt, damit sie vernarbe? Und hätte der Schmerz einen Reiz, der ihn uns lieb machte, führt man nicht dann, indem man sich ihn mit dem Leben raubt, gerade das herbei, was man von der Zukunft fürchtet?
Bedenke es wohl, junger Mann, was sind zehn, zwanzig, dreißig Jahre für ein unsterbliches Wesen? Schmerz und Freude gehen vorüber wie ein Schatten: das Leben verrinnt in einem Augenblick: es ist an sich selbst nichts: sein Werth hängt von seiner Anwendung ab. Nur das Gute, das man gethan hat, bleibt, und um dessen willen ist das Leben etwas.
Sage also nicht mehr, daß das Leben ein Uebel für dich sei, da es von dir allein abhängt, es
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