Julie oder Die neue Heloise
Beweise nehmen, als dein Schreiben selbst. Ehemals fand ich bei dir Sinn, Wahrhaftigkeit; du empfandest natürlich, dachtest richtig, und ich liebte dich, nicht blos aus Neigung, sondern aus Wahl, als ein Mittel mehr für mich, die Weisheit anzubauen. Was hab' ich aber nun in den Entwicklungen dieses Schreibens gefunden, womit du so zufrieden scheinst? Durchgehends eine jämmerliche Sophisterei, die in der Verirrung deines Verstandes zugleich die Verirrung deines Herzens erkennen läßt, und die ich nicht einmal aufzudecken der Mühe werth hielte, wenn ich nicht Mitleid hätte mit deiner Raserei.
Um das Alles mit einem einzigen Worte umzustoßen, will ich dich nur Eines fragen: Du, der du an das Dasein Gottes, an die Unsterblichkeit der Seele und an die Freiheit des Menschen glaubst, nimmst zweifelsohne nicht an, daß ein vernunftbegabtes Wesen auf gut Glück einen Körper empfange und auf die Welt gesetzt werde, um da zu sein, zu leben und zu sterben? Es hat denn doch vielleicht das Leben einen Zweck, ein Ziel, eine sittliche Bedeutung, wie? Ich bitte dich, mir bestimmt hierauf zu antworten; danach wollen wir Punkt für Punkt deinen Brief vornehmen, und du wirst erröthen, daß du ihn geschrieben hast.
Aber lassen wir die allgemeinen Sätze, womit man oft viel Lärm macht, ohne je einem nachzuleben; denn es findet sich bei der Anwendung immer irgend ein besonderer Umstand, welcher dergestalt die Lage der Sache verändert, daß Jeder sich der Pflicht überhoben glaubt, die Regel zu befolgen, die er Andern vorschreibt; es ist ja bekannt, daß Jeder, der allgemeine Grundsätze aufstellt, der Meinung ist, daß sie alle Welt binden, nur nicht ihn. Noch einmal, reden wir von dir.
Es ist dir also erlaubt, meinst du, deinem Leben ein Ende zu machen? Ich möchte doch wohl wissen, ob du einen Anfang gemacht hast. Wie! Wurdest du in die Welt gesetzt, um nichts zu thun? Hat dir der Himmel nicht mit dem Leben eine Aufgabe zu erfüllen gegeben? Wenn du dein Tagewerk vor dem Abend fertig hast, so ruhe dich die übrige Zeit, du darfst es: aber laß dein Werk sehen. Welche Antwort hast du für den höchsten Richter bereit, wenn er dir Rechenschaft von der Anwendung deiner Zeit abfordert? Sprich, was wirst du antworten? Ich habe ein sittsames Mädchen verführt; ich habe einen Freund in seinem Kummer verlassen. Unglücklicher! zeige mir doch den Gerechten, der sich rühmen kann, genug gelebt zuhaben, damit ich von ihm lerne, wie man das Leben getragen haben muß, um das Recht zu haben, es zu verlassen.
Du rechnest die Leiden der Menschheit auf, schämst dich nicht, hundertmal widerlegte Gemeinplätze auszubeuten, und sagst: das Leben ist ein Uebel. Aber schau umher, suche, ob du in der Ordnung der Dinge irgendwo Gutes findest, das nicht Uebel zur Seite habe. Kann man deshalb sagen, daß es kein Gut auf der Welt gebe? Und darfst du das, was seiner Natur nach ein Uebel ist, mit dem vermengen, dem das Uebel nur zufällig anhaftet? Du hast selbst gesagt, das passive Leben des Menschen ist nichts und geht nur einen Leib an, von welchem er bald erlöst sein wird, aber sein actives und moralisches Leben, welches auf sein ganzes Wesen Einfluß haben soll, besteht in seiner Willensübung. Das Leben ist ein Uebel für den Bösen, der gedeiht, und ein Gut für den unglücklichen Redlichen; denn nicht eine vorübergehende Wandlung, sondern seine Beziehung auf seinen Zweck macht es gut oder böse. Was sind es endlich für unerträgliche Schmerzen, die dich zwingen, ihm zu entsagen? Meinst du, ich hätte nicht unter deiner erheuchelten Unparteilichkeit bei der Aufzählung der Uebel des Lebens die Scham erkannt, von deinen eigenen zu sprechen? Folge mir, gieb nicht alle deine Tugenden zugleich daran; bewahre dir wenigstens deine alte Freimüthigkeit, und sage deinem Freunde offen: ich habe die Hoffnung verloren, eine sittsame Frau zu verführen, bin nun gezwungen ein braver Mann zu sein; ich will lieber sterben.
Du bist des Lebens überdrüßig, und sprichst; das Leben ist ein Uebel. Ueber Lang oder Kurz wirst du getröstet sein, und wirst sprechen: das Leben ist ein Gut Es wird wahrer gesprochen, und doch nicht besser gesprochen sein; denn es wird sich nichts geändert haben, als du. Aendere dich also von Stund' an, und da dein ganzes Uebel in deiner üblen Gemütsverfassung liegt, so bessere deine ungeregelten Stimmungen, und verbrenne nicht dein Hans, um dir die Mühe des Aufräumens zu ersparen.
Ich leide, sagst du; hängt es von mir ab,
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