Julie oder Die neue Heloise
eingehaucht, damit er regungslos in beständigem Quietismus hinbrüte; er hat ihm vielmehr die Freiheit gegeben, um das Gute zu thun, das Gewissen, um es zu wollen, die Vernunft, um es zu wählen; er hat ihn selbst zum alleinigen Richter seiner Handlungen bestellt; er hat in des Menschen Herz geschrieben: thue, was dir nützt und Keinem schadet. Wenn ich fühle, daß es gut für mich ist, zu sterben, so widerstrebe ich seinem Geheiß, wenn ich darauf bestehe, zu leben; denn dadurch, daß er mir den Tod wünschenswerth macht, schreibt er mir vor, ihn zu suchen.
Bomston, ich frage Sie, auf Ihre Einsicht und auf Ihre Ehrlichkeit: welche andern Grundsätze über den freiwilligen Tod kann die Vernunft mit Sicherheit aus der Religion ableiten? Wenn die Christen entgegengesetzte aufgestellt haben, so haben sie doch dieselben weder aus den Principien ihrer Religion, noch aus deren alleiniger Richtschnur, nämlich der heiligen Schrift, sondern nur aus den heidnischen Philosophen geschöpft. Lactanz und Augustin, die zuerst diese neue Lehre aufstellten, von der Jesus Christus und die Apostel kein Wort gesagt haben, beriefen sich auf nichts Anderes als das Raisonnement im Phädon, das ich schon bestritten habe, so daß die Gläubigen, die hierin dem Ansehen der Schrift zu folgen meinen, nur dem Ansehen Plato's folgen. In der That, wo findet man in der ganzen Bibel ein Gebot gegen den Selbstmord oder auch nur eine Abmahnung? Und ist es nicht recht seltsam, daß man bei allen Beispielen von Personen, die sich selbst das Leben genommen haben, nie ein Wort des Tadels gegen diese Handlung ausgesprochen findet? Ja, Samson's Selbstmord wird sogar durch ein Wunder bekräftigt, das ihn an seinen Feinden rächt. Würde ein Wunder geschehen sein, um ein Verbrechen zu rechtfertigen? und würde dieser Mann, der seine Stärke verlor, weil er sich von einem Weibe verführen lassen, sie wieder erlangt haben, um eine offenbare Missethat zu begehen? gleich als wollte Gott selbst die Menschen irreführen!
Du sollst nicht tödten, sagen die zehn Gebote. Was folgt daraus? Wenn dieses Gebot buchstäblich genommen werden soll, so darf man auch weder Missethäter noch den Feind des Landes tödten, und Moses, der so viele Menschen zu Tode brachte, hat sein eigenes Gebot sehr schlecht verstanden. Wenn es nun also Ausnahmen von der Regel giebt, so muß man sicherlich vor allen eine zu Gunsten des freiwilligen Todes machen, weil er nicht Gewalt und Ungerechtigkeit in sich schließt, um deren willen allein der Mord ein Verbrechen ist, und weil im Uebrigen die Natur selbst hinlänglich vorgebaut hat.
Aber sagen sie noch ferner, leidet geduldig, was euch Gott auflegt, machet euch ein Verdienst aus eueren Leiden, So die Grundsätze des Christenthums anwenden, heißt dessen Geist schlecht begriffen haben. Der Mensch ist tausend Uebeln unterworfen, sein Leben ist ein Gewebe von Jammer und er scheint nur zum Jammer geboren. Von diesen Uebeln heißt ihn die Vernunft diejenigen vermeiden, die er vermeiden kann, und die Religion, die nie der Vernunft entgegen ist, giebt ihre Zustimmung. Aber wie klein ist ihre Summe gegen die Menge derer gehalten, die er gezwungen ist wider Willen zu dulden! Aus diesen erlaubt der gnädige Gott dem Menschen sich ein Verdienst zu machen; er nimmt als freiwillige Huldigung den gezwungenen Tribut an, welchen er uns auflegt, und schreibt uns für das jenseitige Leben die Entsagungen des diesseitigen gut. Die wahre Buße ist dem Menschen von der Natur auferlegt; wenn er geduldig alles Das erträgt, was er zu ertragen gezwungen ist, so hat er in dieser Hinsicht Alles gethan, was Gott von ihm fordert, und wenn Einer den Hochmuth hat, mehr thun zu wollen, so ist er ein Narr, den man einsperren, oder ein Schelm, den man bestrafen muß. Entziehen wir uns daher ohne Bedenken allen Uebeln, denen wir entgehen können; es wird uns immer noch nur zu viel zu erdulden übrig bleiben. Befreien wir uns ohne Furcht auch von dem Leben selbst, sobald es ein Uebel für uns ist. da wir es in unserer Gewalt haben und dadurch weder Gott noch Menschen beleidigen. Wenn das höchste Wesen Opfer verlangt, ist Sterben nichts! Bringen wir Gott mit unserem Tode das Opfer, das er uns durch die Stimme der Vernunft auflegt, und ergießen ruhig in seinen Schoß die Seele, die er von uns zurückfordert.
Dies sind die allgemeinen Regeln, welche die gesunde Vernunft allen Menschen vorschreibt, und welche die Religion gut heißt
[Wunderlicher Brief in Betracht des
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