Julie oder Die neue Heloise
Gegenstandes, um den es sich handelt! Erörtert man eine solche Frage mit solcher Ruhe, wenn man sie für sich selbst in Ueberlegung nimmt? Ist der Brief fabricirt oder wartet der Schreiber nur darauf, widerlegt zu werden? Was hierüber zweifelhaft machen kann, ist das von ihm selbst angeführte Beispiel Robeck's, das Aehnliches auch bei ihm anzunehmen uns ein Recht giebt. Robeck ging mit sich so wohlbedächtig zu Rathe, daß er die Geduld hatte, ein Buch zu schreiben, ein großes, schweres, dickleibiges, eiskaltes Buch, und nachdem er, seiner Meinung nach, zu dem sicheren Schlusse gekommen war, daß es erlaubt sei, sich zu tödten, tödtete er sich mit derselben Ruhe. Seien wir auf unserer Hut vor Zeit- und Volksvorurtheilen! Wenn es nicht im Brauch ist, sich das Leben zu nehmen, sieht man diejenigen, die es thun, nur für Wahnsinnige an; Handlungen des Muths kommen schwachen Seelen stets chimärisch vor: Jeder beurtheilt die Anderen nur nach sich. Allein wie viele beglaubigte Beispiele haben wir nicht von Männern, die in jeder andern Hinsicht voll Verstand, und die ohne Bedenken, ohne Leidenschaft, ohne Verzweiflung dem Leben entsagen, blos weil es ihnen zur Last ist, und ruhiger sterben, als sie gelebt haben!]
. Kommen wir auf uns zurück, Sie haben mich gewürdigt, mir Ihr Herz zu öffnen: ich kenne Ihren Kummer, Sie leiden nicht weniger als ich; Ihr Uebel ist unheilbar wie das meinige, und noch unheilbarer, weil die Gebote der Ehre wandelloser sind als die des Geschickes, Sie ertragen es, bekenne ich, mit Festigkeit, Die Tugend hilft Ihnen: einen Schritt weiter und sie einbindet Sie. Sie dringen in mich, zu leiden; Milord, ich erdreiste mich, in Sie zu dringen, Ihren Leiden ein Ende zu machen, und ich überlasse es Ihnen, zu urtheilen, wer von uns beiden den andern am liebsten hat.
Was zögern wir, einen Schritt zu thun, der immer doch gethan werden muß? Wollen wir warten, bis Alter und Jahre uns auf niedere Weise an das Leben ketten, nachdem sie uns den Reiz desselben geraubt, und bis wir mühsam, schimpflich und schmerzlich den elenden, gebrochenen Leib hinschleppen? Wir sind in dem Alter, wo die Seele noch Kraft genug hat, um leicht ihre Bande abzustreifen, in welchem der Mensch noch zu sterben weiß; später läßt er sich das Leben nur mit Seufzern entreißen. Nutzen wir eine Zeit, da Lebensüberdruß uns den Tod wünschenswerth macht! Später möchte er in seinem Graus zu einer Zeit kommen, da wir ihn nicht mögen. Ich erinnere mich eines Augenblicks in meinem Leben, in welchem ich den Himmel nur um eine Stunde bat: ich wäre in Verzweiflung gestorben, wenn ich sie nicht erhalten hätte. Ach, wie schmerzlich ist es, die Bande zu zerreißen, welche unser Herz an die Erde ketten! und wie weise gethan ist es, ihr zu entfliehen, sobald jene zerrissen sind! Ich fühle es, Milord, wir sind beide einer bessern Wohnung werth: die Tugend weist uns zu ihr hin, und das Schicksal ladet uns ein, den Weg zu betreten. Vereinige uns die Freundschaft, die uns verbindet, noch in unserer letzten Stunde. O welche Wollust für zwei wahre Freunde, ihre Tage freiwillig einer in des andern Armen zu beschließen, ihre letzten Seufzer zu vermischen und zugleich die beiden Hälften ihrer Seele auszuhauchen! Welcher Schmerz, welche Klage könnte ihre letzten Augenblicke vergiften? Was verlassen sie, wenn sie aus der Welt scheiden? Sie gehen mitsammen hin, sie verlassen nichts.
Zweiundzwanzigster Brief.
Antwort.
Junger Mann, du schwärmst in's Blaue hinaus: sei bescheidener, gieb nicht Rath, indem du Rath verlangst; ich habe andere Leiden gekostet als du. Meine Seele ist fest; ich bin Engländer. Ich weiß zu sterben; denn ich weiß zu leben, als Mann zu dulden. Ich habe dem Tode in die Augen gesehen, und er ist mir zu gleichgültig, um ihn zu suchen. Reden wir von dir.
Es ist wahr, du warst mir nothwendig; meine Seele bedurfte der deinigen; dein Beistand konnte mir nützlich werden, dein Geist konnte mir in der wichtigsten Angelegenheit meines Lebens zur Klarheit verhelfen; wenn ich mir ihn nicht zu nutze mache, wem giebst du die Schuld? Wo ist er? was ist aus ihm geworden? wozu bist du nütze in dem Zustande, worin du dich befindest? welche Dienste kann ich von dir hoffen? Ein sinnloser Schmerz macht dich stumpf für Alles und mitleidslos: du bist kein Mann, bist nichts; und wenn ich nicht erwöge, was du sein könntest, so wie du bist, wüßte ich nichts in der Welt, was tiefer stände, als du.
Ich will nichts zum
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