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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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nicht zu fürchten, daß man an ihnen den vom Menschen gemachten Menschen statt des natürlichen finde.
    Oft begegnet Herr von Wolmar auf seinen Gängen irgend einem guten Alten, dessen Verstand und gesundes Urtheil ihm auffällt, einem Manne, wie er ihn zum Plaudern liebt. Den nimmt er dann mit zu seiner Frau; sie empfängt ihn mit einer Liebenswürdigkeit, welche nichts von dem höflichen Tone und von den Manieren ihres Standes an sich hat, sondern nur das Wohlwollen und die Menschenfreundlichkeit ihres Charakters verräth. Man behält den braven Alten zu Tische; Julie setzt ihn an ihre Seite, legt ihm vor, spricht auf's zuthunlichste und voller Theilnahme mit ihm, erkundigt sich nach seiner Familie, nach seinen Verhältnissen, lächelt nicht über sein verlegenes Wesen, thut nicht, als gebe sie belästigend auf seine bäuerischen Manieren Acht, sondern macht durch die Ungezwungenheit der ihrigen, daß er sich wie zu Hause fühlt, und verleugnet keinen Augenblick jene liebevolle und rührende Achtung, die man dem gebrechlichen Alter schuldig ist, dem ein langer, vorwurfsfreier Lebenslauf Ehre macht. Der Greis, bezaubert, schließt sein ganzes Herz auf, er scheint sich einen Augenblick wieder jung zu fühlen. Der Wein, den er auf die Gesundheit einer jungen Dame trinkt, erwärmt sein halb erstarrtes Blut noch mehr. Er wird feurig, indem er von seiner alten Zeit erzählt, von seinen Liebschaften, von seinen Feldzügen, von den Schlachten, bei welchen er gewesen, von dem Muthe seiner Mitkämpfer, von seiner Heimkehr in's Vaterland, von seiner Frau. von seinen Kindern, von der Landarbeit, von den Mißständen, die er bemerkt und von den Mitteln zur Abhülfe, die er ausgesonnen hat. Oft lassen sich aus den langen Reden des geschwätzigen Alters treffliche Moralsätze oder Wirthschaftsregeln herausnehmen, und wenn auch an dem, was er sagt, nichts wäre, als das Vergnügen, das es ihm selbst macht, so würde es Julie Vergnügen machen, ihm zuzuhören.
    Nach dem Essen geht sie in ihr Zimmer und holt irgend eine Kleinigkeit zum Geschenke für die Frau oder die Töchter des guten alten Mannes. Dieses läßt sie ihm durch die Kinder reichen, und er hat dafür etwas, das die Kinder gern haben, in Bereitschaft, irgend ein einfaches Geschenk, welches ihm Julie heimlich für sie gegeben hat. So bildet sich frühzeitig das milde und innige Wohlwollen, welches die verschiedenen Stände unter einander verknüpft. Die Kinder gewönnen sich, das Alter zu ehren, die Sitteneinfalt werthzuschätzen und das Verdienstliche in jedem Stande anzuerkennen. Die Bauern, welche ihre Alten in einem achtbaren Hause ehrenvoll aufgenommen und zu dem Tische der Herrschaft gezogen sehen, halten es für keine Kränkung, wenn sie selbst davon ausgeschlossen sind, sie stellen dies nicht auf Rechnung ihres Standes, sondern ihres Alters. Sie sagen nicht: wir sind zu arm, sondern wir sind noch zu jung, um so behandelt zu werden: die Ehre, welche ihren Alten erwiesen wird, und die Hoffnung, einst derselben theilhaft zu werden, trösten sie, daß sie derselben jetzt entbehren, und sind ihnen ein Antrieb, sich derselben würdig zu machen.
    Indessen kommt der gute Alte noch ganz bewegt von der liebreichen Aufnahme, die ihm zu Theil geworden, in seine Hütte heim, und kramt geschwind seiner Frau und seinen Kindern die Geschenke aus, die er ihnen mitbringt. Diese Kleinigkeiten verbreiten Freude in einer ganzen Familie, welche daraus sieht, daß man es nicht verschmäht, sich mit ihr zu beschäftigen. Er erzählt ihnen mit Ausführlichkeit und Nachdruck wie herrlich er aufgenommen, was für schönes Essen, was für guter Wein ihm vorgesetzt, wie verbindlich mit ihm gesprochen, wie nach ihnen allen gefragt worden, wie zuthunlich die Herrschaft, wie aufmerksam die Dienerschaft gewesen, und überhaupt Alles, was nur den Beweisen von Achtung und Güte, die ihm zu Theil geworden, Werth geben kann. Im Erzählen genießt er Alles zum zweiten Male, und das ganze Haus glaubt der Ehre mitzugenießen. die seinem Oberhaupte widerfahren ist. Alle segnen aus einem Munde diese erlauchte und edle Familie, die ein Beispiel für die Großen und eine Zuflucht der Kleinen ist, die den Armen nicht verachtet, und das weiße Haar ehrt. Dies ist der Weihrauch, der mildthätigen Seelen wohlgefällt. Wenn es menschliche Segensgebete giebt, welche der Himmel gern erhört, so sind es nicht die, welche aus Schmeichelei und Kriecherei den Personen, denen das Lob gilt, in's Gesicht geworfen

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