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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ausstatten muß? Und wäre es nicht besser, lieber kein Gedächtniß zu haben, als es mit all diesem Ballast anzufüllen zum Nachtheile der nothwendigen Kenntnisse, deren Stelle derselbe einnimmt?
    Nein, wenn die Natur dem Hirn des Kindes die Geschmeidigkeit gegeben hat, welche es fähig macht, alle Arten von Eindrücken anzunehmen, so ist dies nicht deshalb geschehen, damit man Namen von Königen, Jahreszahlen, heraldische, mathematische, geographische Ausdrücke und alle jene Worte hineinpräge, die für dieses Alter keinen Sinn und für überhaupt kein Alter Nutzen haben, mit denen man aber seine trübselige und kahle Jugendzeit belädt; sondern deshalb, daß alle auf den Zustand des Menschen bezügliche Ideen, alle diejenigen, welche auf sein Glück abzielen und ihn über seine Pflichten aufklären, sich frühzeitig in unauslöschlichen Zügen abdrücken, und dazu dienen, es während seines ganzen Lebens auf eine seinem Wesen und seinen Fähigkeiten entsprechende Art zu leiten.
    Wenn ein Kind auch nicht aus Büchern lernt, so bleibt deswegen sein Gedächtmß noch nicht müßig: Alles, was es sieht, Alles, was es hört, macht ihm Eindruck und haftet in seiner Erinnerung; es behält die Handlungen, die Reden der Leute, und seine Umgebung ist das Buch, aus welchem es, ohne daran zu denken, beständig in seinem Gedächlniß Schätze aufspeichert, von denen dereinst sein Verstand Gewinn wird ziehen können. Im Auswählen der Gegenstände, in der Sorge, ihn unablässig solche darzubieten, die es kennen soll, und ihm solche zu verbergen, die es nicht kennen soll, besteht die wahre Kunst, die frühere seiner Fähigkeiten anzubauen, und auf diese Weise muß man trachten ihm einen Vorrath von Kenntnissen zu verschaffen, die zu seiner Bidung während der Jugend und ihm zum Leitstern für sein ganzes Leben dienen. Diese Methode bildet freilich keine Wunderkinder, und giebt den Gouvernanten und Lehrern nickt Gelegenheit zu brilliren; aber sie bildet vernünftige, kräftige, an Leib und Seele gesunde Menschen, die zwar nicht Bewunderung in jungen Jahren, wohl aber Ehre, wem sie groß sind, einernten.
    Glauben Sie indessen nicht, fuhr Julie fort, daß man die Pflege, welche Sie so hoch anschlagen, hier ganz und gar vernachlässigt. Eine Mutter von einiger Wachsamkeit hat den Hang ihrer Kinder in ihren Händen. Es giebt Mittel, den Wunsch, dies oder das zu lernen oder zu thun, in ihnen rege zu machen und zu nähren; soweit diese Mittel sich mit der unbedingtesten Freiheit des Kindes vereinigen lassen, und keinen Samen von Lastern in sich tragen, mache ich von ihnen recht gern Gebrauch, jedoch ohne etwas durchsetzen zu wollen, wenn sich nicht sogleich Erfolg zeigt, denn zum Lernen wird noch immer Zeit sein: aber es ist kein Augenblick zu verlieren, um auf das Naturell des Kindes bildend zu wirken, und Herr von Wolmar hat von der ersten Entwickelung der Vernunft eine solche Meinung, daß er behauptet, wenn sein Sohn auch zu zwölf Jahren noch nichts wüßte, würde er doch zu fünfzehn Jahren nicht weniger unterrichtet sein, nicht zu gedenken, daß nichts weniger nothwendig ist, als gelehrt zu sein, und nichts nothwendiger, als verständig und gut zu sein.
    Sie wissen, daß unser Aeltester schon recht leidlich liest. Hören Sie, wie ihm die Lust gekommen ist, lesen zu lernen. Ich hatte vor, ihm von Zeit zu Zeit zu seiner Belustigung eine Lafontaine'sche Fabel vorzulesen, und ich hatte damit eben angefangen, als er fragte, ob denn die Raben sprechen könnten. Augenblicklich sah ich, daß es schwierig sein würde, ihm den Unterschied zwischen Dichtung und Lüge begreiflich zu machen; ich zog mich aus der Sache, so gut ich konnte, und jetzt überzeugt, daß Fabeln nur für Erwachsene seien, daß man Kndern aber immer die nackte Wahrheit sagen müsse, ließ ich den Lafontaine ruhen. Ich nahm statt dessen eine Sammlung von lehrreichen und unterhaltenden Geschichten, meistens aus der Bibel gezogen. Da ich nun sah daß er an meinen Erzählungen Geschmack fand, fiel er darauf, sie noch nützlicher für ihn einzurichten, indem ich versuche, selbst welche abzufassen, die jedesmal dem augenblicklichen Bedürfniß angepaßt waren, und die ich so ergötzlich machte, als ich konnte. Ich schrieb sie nach und nach in ein schönes mit Bildern verziertes Buch, welches ich wohl verschlossen hielt, und woraus ich ihm von Zeit zu Zeit ein Geschichtchen vorlas, nicht zu oft, nicht zu lang, und oft dieselben wiederholend und erläuternd, ehe ich zu

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