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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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neuen überging, Ein Kind, das nichts zu thun hat, langweilt sich häufig: die kleinen Geschichten dienten als Aushülfe: oft aber, wenn er gerade am gespanntsten war, fiel mir irgend ein häusliches Geschäft ein, und ich brach an der interessantesten Stelle ab, ging fort und ließ das Buch liegen. Sogleich lief er zu seiner Bonne oder zu Fanchon oder sonst Jemand und bat, ihm die Geschichte auszulesen; aber da er Niemanden etwas zu befehlen hat, und alle Leute im Hause vorbereitet waren, so that es Niemand. Der Eine wollte nicht, der Andere hatte zu thun, der Dritte buchstabirte langsam und unverständlich, der Vierte las und hörte wie ich mitten in der Geschichte auf. Als man sah, wie ärgerlich es ihm war, so von allen Leuten abzuhängen, gab ihm Einer heimlich den Rath, er solle doch lesen lernen, damit er Niemanden brauchte und selbst in dem Buche blättern könnte, so viel er wollte. Dieser Vorschlag gefiel ihm. Es galt nun, Jemanden zu finden, der die Gefälligkeit hätte, ihm Unterricht zu geben; wieder eine Schwierigkeit, die man nur so weit trieb, als nöthig war. Ungeachtet aller dieser Vorkehrungen ist er doch drei oder vier Mal der Sache überdrüssig geworden. Man ließ ihn. Ich bemühte mich nur, die Geschichten noch amüsanter zu machen, und er kehrte endlich zu seinem Vorhaben mit so vielem Eifer zurück, daß er, obgleich es erst sechs Monate sind, seit er ernstlich zu lernen angefangen hat, bald die Sammlung wird allein lesen können.
    Ungefähr auf diese Weise werde ich seinen Eifer und guten Willen zur Erwerbung aller der Kenntnisse zu wecken suchen, welche Ausdauer und Fleiß erfordern, und seinem Alter etwa angemessen sind; aber obgleich er lesen lernt, holt er seine Kenntnisse nicht aus Büchern, denn sie sind nicht darin zu finden, und das Lesen ist den Kindern in keiner Hinsicht etwas nütze. Ich will ihn auch frühzeitig gewöhnen, seinen Kopf mit Gedanken und nie mit Worten zu füllen; deshalb lasse ich ihn nie etwas auswendig lernen.
    Nie? unterbrach ich sie: das ist viel gesagt, denn er muß doch wenigstens seinen Katechismus und seine Gebete auswendig lernen. Darin irren Sie, gab sie zu, Antwort. Was das Gebet betrifft, so spreche ich das meinige alle Abende und alle Morgen laut in dem Zimmer meiner Kinder, und das ist hinreichend, daß sie es lernen, ohne daß man sie dazu zwinge; was den Katechismus betrifft, so wissen sie nichts davon. Wie? Julie, Ihre Kinder lernen nicht den Katechismus? Nein, mein Freund, meine Kinder lernen den Katechismus nicht. Was? sagte ich ganz erstaunt, eine so fromme Mutter! .... Ich begreift Sie nicht. Und warum lernen Ihre Kinder den Katechismus nicht? Damit sie einst glauben, was darin steht, sagte sie; ich wünsche Christen aus ihnen zu machen. Aha, ich verstehe Sie, rief ich; Sie wollen nicht, daß ihr Glaube nur in Worten bestehe, und daß sie ihre Religion blos auswendig wissen, sondern daß sie sie glauben, und Siedenken mit Recht, daß es dem Menschen unmöglich ist, zu glauben, was er nicht versteht, Sie und sehr schwierig, sagte Herr von Wolmar lächelnd zu mir; sind Sie denn aber Christ? Ich bemüe mich, es zu sein, sagte ich mit festem Tone, ich glaube von der Religion Alles, was ich begreifen kann, und achte das Uebrige, ohne es zu verwerfen. Julie winkte mir Beifall, und wir nahmen den Gegenstand unserer Unterhaltung wieder auf.
    Nachdem wir noch auf mehrere Einzelnheiten eingegangen waren, die mir bewiesen, wie thätig, unermüdlich und voraussichtig der mütterliche Eifer ist, schloß sie mit der Bemerkung, daß ihre Methode genau den beiden Zwecken entspräche, die sie vor Augen hätte, nämlich, die natürliche Anlage der Kinder sich entwickeln zu lassen, und dieselbe zu studiren. Meine Kinder sind in nichts gehindert, sagte sie, und können ihre Freiheit nicht mißbrauchen; ihr Charakter kann weder ausarten, noch einschrumpfen; ich lasse ruhig ihren Körper Kraft gewinnen und ihren Verstand aufkeimen; keine Knechtschaft drückt ihre Seele nieder; die Blicke ihrer Umgebung wecken nicht ihre Eigenliebe; sie kommen sich weder wie gewaltige Leute noch wie angekettete Thiere vor, sondern wie glückliche und freie Kinder. Zu Verhütung von Lastern, die nicht in ihnen sind, haben sie, wie mich dünkt, ein Schutzmittel, welches stärker ist, als andere, die sie nicht verstehen oder die ihnen bald langweilig werden, nämlich das sittliche Vorbild ihrer ganzen Umgebung, die Aeußerungen, die sie hören, die hier aller Welt natürlich sind, und

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