Julie oder Die neue Heloise
der Aelteste dem Jüngsten eine Trommel weggenommen, worüber letzterer weinte. Fanchon sagte nichts, aber eine Stunde nachher, als der Räuber der Trommel gerade im besten Spielen damit war, nahm sie sie ihm wieder weg; er lief ihr nach und forderte sie zurück, indem nun er weinte. Sie sagte zu ihm: Du hast sie deinem Bruder mit Gewalt weggenommen, ich nahm sie dir ebenso weg; was hast du dagegen einzuwenden? bin ich nicht auch die Stärkere? Hierauf that sie es ihm nach, und fing an zu trommeln, als ob es ihr großes Vergnügen machte. Bis dahin war Alles vortrefflich; aber einige Zeit nachher wollte sie die Trommel dem Jüngsten wiedergeben; da wehrte ich ihr, denn dies war keine naturgemäße Lection, und es hätte daraus ein erster Keim von Neid zwischen den beiden Brüdern entstehen können. Als er die Trommel einbüßte, unterwarf sich der Jüngste dem harten Gesetze der Nothwendigkeit; der Aelteste fühlte nachher seine Ungerechtigkeit; Beide erkannten ihre Schwachheit, und waren den Augenblick darauf getröstet.
Die Neuheit dieses, den hergebrachten Vorstellungen so widersprechenden Erziehungsplanes hatte mich im ersten Augenblick bedenklich gemacht. Nachdem sie ihn mir ausführlich entwickelt hatten, fing ich an, ihn zu bewundern, und ich gestand mir, daß bei der Leitung des Menschen der Weg der Natur stets der beste ist. Ich fand nur Einen Uebelstand bei dieser Methode (und dieser Uebelstand schien mir sehr erheblich), nämlich daß in den Kindern die einzige Fähigkeit, die sie in ganzer Kraft besitzen und die mit den vorrückenden Jahren nur abnimmt, vernachlässigt wird. Es schien mir, daß ihrem eigenen Systeme nach, je schwächer und ungenügender die Wirkungen der Verstandesthätigkeit sind, desto mehr das Gedächtniß, das in der Jugend so geeignet ist, Arbeit auszuhalten, geübt und befestigt werden müßte. Diese Kraft, sagte ich, muß die Vernunft vertreten, bis diese hervorbricht, und sie bereichern, wenn sie sich entfaltet hat. Ein Geist, den man in keiner Weise übt, wird durch die Unthätigkeit träge und schwerfällig. Der Same haftet nicht in einem schlecht vorbereiteten Boden, und für die Entwickelung der Vernunft ist mir das eine schöne Vorbereitung, wenn man damit anfängt, dumm und stumpf zubleiben. Wie? Dumm und stumpf? rief sogleich Frau von Wolmar. Wie können Sie zwei so verschiedene und fast entgegengesetzte Eigenschaften, wie Gedächtniß und Urtheilskraft
[Dies scheint mir nicht richtig gedacht. Nichts ist der Urtheilskraft so unentbehrlich als das Gedächtnis; freilich muß man hierbei nicht an Wortgedächtniß denken.]
mit einander vermengen? Als ob die Menge von schlechtverdauten und ohne Verbindung aufgenommenen Gegenständen, mit denen man einen noch schwachen Kopf anfüllt, für die Entwickelung der Vernunft nicht mehr schädlich als vortheilhaft wäre! Ich räume ein, daß von allen Kräften der Menschen das Gedächtniß die erste ist, die sich entwickelt und diejenige, die sich in Kindern am leichtesten anbauen läßt; aber was verdient, Ihrer Meinung nach, den Vorzug, das, was ihnen am leichtesten zu lernen, oder das, was ihnen am nöthigsten zu wissen ist?
Sehen Sie nur, welchen Gebrauch man bei Kindern von dieser Leichtigkeit macht, wie sehr man ihnen Gewalt anthun muß, wie man sie einem beständigen Zwange unterwerfen muß, um ihr Gedächtniß aufzuputzen, und vergleichen Sie den Nutzen, den sie davon haben, mit Allem, was man sie deswegen leiden läßt. Wie? Ein Kind zwingen, Sprachen zu studiren, die es niemals sprechen wird, und sogar, noch ehe es seine Muttersprache recht gelernt hat; es unablässig Verse wiederholen und scandiren lassen, die es nicht versteht und deren Harmonie es nur an seinen Fingerspitzen fühlt; seinen Geist mit Kreisen und Bogenlinien verwirren, von denen es nicht den mindesten Begriff hat; ihm tausend Namen von Städten und Flüssen aufladen, die es immer wieder verwechselt, und alle Tage von vorn lernt: heißt dies sein Gedächtniß zum Vortheil seines Verstandes anbauen? Und wiegt dieser ganze nichtsnutzige Erwerb eine einzige der Thränen auf, die er dem Kinde kostet?
Wenn alles Das nur unnütz wäre, so würde ich es weniger schlimm finden; aber ist es denn eine Kleinigkeit, ein Kind ausdrücklich anzuweisen, daß es sich mit leeren Worten zufrieden gebe, und Dinge zu wissen glaube, die es nicht begreifen kann? Ist es möglich, daß ein solcher Wust nicht den ersten Ideen schade, mit denen man den Kopf eines menschlichen Wesens
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