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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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zu Herzen spricht, und alle Feinheiten desselben geltend zu machen weiß. Solange die Genferinnen Genferinnen sein werden, werden sie die liebenswürdigsten Frauen Europas sein; aber bald werden sie Französinnen sein wollen, und dann werden die Französinnen mehr werth sein als sie.
    So geht mit den Sitten Alles verloren. Der beste Geschmack wurzelt in der Tugend selbst, er verschwindet mit ihr und macht einem falschen aufgedunsenen Geschmacke Platz, der nichts weiter als das Werk der Mode ist. Mit dem wahren Geiste verhält es sich beinahe ebenso. Ist es nicht die Züchtigkeit unseres Geschlechtes, welche uns nöthigt, Kunst zu gebrauchen, um uns der Kosereien der Männer zu erwehren? Und wenn sie es geschickt anzustellen wissen, um sich Gehör zu verschaffen, dürfen wir es weniger geschickt anfangen, um es so zu machen, daß wir nicht hören? Sind sie es nicht, die uns den Geist und die Zunge lösen, die uns schnellfertiger in der Riposta
[Es müßte Risposta heißen, von dem italienischen risposta; man sagt aber nun auch einmal Riposta, und ich lasse es stehen. Schlimmsten Falls ist es doch nur ein Fehler mehr.]
machen, und uns zwingen, sie zum Besten zu haben? Denn im Grunde, sage was du willst, eine gewisse spitzige und boshafte Koketterie bringt die Seufzerdreher immer noch mehr aus der Fassung als Stillschweigen oder Verachtung. Welche Lust, einen schönen Seladon ganz aus dem Häuschen, bei jeder Antwort in Verwirrung, schamroth, rathlos zu sehen, sich gegen ihn mit weniger heißen aber viel spitzeren Pfeilen, als Amor seine sind, zu waffnen, ihn mit eisigen Spitzen zu prickeln, die ihre Kälte nur desto stechender macht! Du selbst, die du so thust, als wäre nichts, denkst du, daß sich hinter deiner zärtlichen und naiven Art, hinter deinem sanften, schüchternen Mienchen weniger List und Geschick verbirgt, als hinter all meinem Uebermuth? Meiner Treu', Kleine, wenn es gälte, die Galans zu zählen, die jede von uns beiden genarrt hat, so zweifle ich sehr, daß du mit deiner ganzen Heuchelmiene sehr im Rückstand bleiben würdest. Ich muß noch lachen, wenn ich an den armen Conflans denke, der in voller Wuth zu mir kam, um mir Vorwürfe darüber zu machen, daß du ihn zu sehr liebtest. Sie ist so carressant, sagte er zu mir, daß ich nicht weiß, worüber ich mich zu beklagen hätte; sie ist so voll Vernunft, wenn sie mit mir spricht, daß ich mich schäme, vor ihr keine zu haben, und sie ist, finde ich, so sehr meine Freundin, daß ich nicht wage, ihr Liebhaber zu sein.
    Ich glaube nicht, daß es irgendwo in der Welt einträchtigere Gatten und mehr Ruhe im Hausstande giebt, als in dieser Stadt. Das häusliche Leben hier ist angenehm und erquicklich; man findet gefällige Ehemänner und unter den Frauen beinahe Julien. Dein System bestätigt sich hier vortrefflich. Die beiden Geschlechter gewinnen auf alle Art dadurch, daß sie sich verschiedene Arbeiten und Vergnügungenmachen, welche sie verhindern, eines des anderen überdrüssig zu werden, und bewirken, daß sie sich mit desto größerem Vergnügen zusammenfinden. So schärft sich der Weise seinen Genuß; enthaltsam sein, um zu genießen, das ist deine Philosophie; es ist der Epikuräismus der Vernunft.
    Zum Unglücke fängt hier die alterthümliche Verschämtheit an in Abnahme zu gerathen. Man nähert sich einander mehr, und die Herzen entfernen sich dabei. Es ist hier, wie bei uns, Alles aus Gutem und Bösem gemischt, aber nach anderen Verhältnissen. Der Genfer schöpft seine Tugenden aus sich, seine Laster kommen ihm von Außen. Nicht nur reist er viel, sondern er nimmt auch die Sitten und Manieren anderer Völker unschwer an; er spricht alle Sprachen mit Leichtigkeit, er bemächtigt sich ohne Mühe ihres verschiedenartigen Tonfalles, obgleich er selbst einen schleppenden Ton hat, der sehr fühlbar ist, besonders bei den Frauen, die weniger reisen. Mehr demüthig über seine Unbedeutendheit, als stolz auf seine Freiheit, schämt er sich bei den fremden Nationen seines Vaterlandes; er sputet sich gleichsam, sich in dem Lande, wo er lebt, zu naturalisiren, als ob er vergessen machen wollte, woher er ist; vielleicht trägt der Ruf, der ihm anklebt, gewinnsüchtig zu sein, zu dieser verwerflichen Scham bei. Es würde ohne Zweifel besser sein, durch Uneigennützigkeit den Schimpf des genferischen Namens auszulöschen, als ihn dadurch noch mehr herabzusetzen, daß man sich schämt, ihn zu führen; aber der Genfer verachtet ihn, selbst wenn er ihn

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