Julie oder Die neue Heloise
zufrieden, anders sprechen, als sie handeln, Anderen schwere Lasten aufbürden, an die sie selbst nicht rühren mögen.
Welche Lebensweise hat nun dieser verständige Mann gewählt, um die Gesetze, die er sich vorschreibt, zu befolgen? Nicht so sehr Philosoph, als Freund der Tugend und Christ, hat er ohne Zweifel nicht seinen Stolz zum Führer erkoren. Er weiß, daß der Mensch mehr Freiheit hat, Versuchungen auszuweichen, als sie zu besiegen, und daß es nicht die Aufgabe ist, Leidenschaften, nachdem sie aufgeregt sind, zu bändigen, sondern vielmehr ihrem Entstehen zuvorzukommen. Stellt er sich demnach vor verführerischen Gelegenheiten sicher? Flieht er solche Gegenstände, welche fähig sind, ihn zu entstammen? Macht er ein demüthiges Mißtrauen in die eigene Kraft zur Schutzwehr seiner Tugend? Nein, im Gegentheil, er trägt kein Bedenken, sich in die verwegensten Kämpfe zu stürzen. Ein Dreißiger, will er sich mit Frauen seines Alters in Einsamkeit begraben, von denen die eine ihm zu theuer war, als daß ein so gefährliches Andenken je gänzlich erlöschen könnte, von denen die andere mit ihm in inniger Vertraulichkeit gelebt hat, und von denen eine dritte noch an ihm hängt durch das Anrecht, welches Wohlthaten auf erkenntliche Seelen geben. Er will sich Allem aussetzen, was schlecht erstickte Leidenschaften wieder aufwecken kann? er will sich in Schlingen verwickeln, die er am meisten fürchten sollte. Es ist eine Stellung, in der keine einzige Beziehung liegt, die ihm nicht Anlaß geben sollte, seiner Kraft zu mißtrauen, keine einzige, die, wenn er einen Augenblick schwach wäre, ihn nicht auf immer erniedrigen würde, und wo ist denn diese große Seelenstärke, auf dieer sich so sehr zu verlassen wagt? Was hat sie bisher geleistet, das ihm für die Zukunft Bürgschaft geben könnte? Rettete sie ihn in Paris aus dem Hause des Colonel? War nicht sie es, die vergangenen Sommer den Auftritt von Meillerie herbeiführte? Und hat sie ihn diesen Winter vor den Reizen eines anderen Gegenstandes behütet, und diesen Frühling vor den leeren Schrecken eines Traumes? Hat er sich ihretwegen auch nur einmal überwunden, daß er hoffen dürfte, sich unaufhörlich zu überwinden? Er versteht es, wenn die Pflicht gebietet, die Leidenschaften eines Freundes zu bekämpfen; aber die seinigen .... Ach! wenn er der schönsten Hälfte seines Lebens nach urtheilen will, wie bescheiden muß er von der anderen denken!
Man erträgt einen gewaltsamen Zustand, wenn er von kurzer Dauer ist. Sechs Monate, ein Jahr sind nichts; man sieht das Ende ab, und man faßt Muth. Aber wenn dieser Zustand immer fortdauern soll, wer kann ihn dann ertragen? Wer vermag es, bis zum Tode sich stets zu besiegen? O, mein Freund, wenn das Leben für die Freude kurz ist, wie lang ist es für die Tugend! Man muß unablässig auf seiner Hut sein. Der Augenblick des 'Genusses geht vorüber, und kommt nicht wieder; der der bösen That geht vorüber, und kommt unaufhörlich wieder: man vergißt sich einen Augenblick, und man ist verloren. Ist es in einem so fürchterlichen Zustande möglich, ruhige Tage hinzubringen? Und geben nicht selbst diejenigen, die man der Gefahr entrissen hat, nur einen Grund, ihr die übrigen nicht auszusetzen?
Wie viele Gelegenheiten können wiederkehren, eben so gefährlich, als diejenigen, denen Sie entronnen sind, und was das Schlimmste ist, nicht weniger unvorhergesehen! Glauben Sie, daß die Erinnerungsmale, die Sie zu fürchten haben, nur in Meillerie zu finden sind? Sie sind überall, wo wir sind, denn wir tragen sie in uns. Sie wissen nur zu gut, daß eine weiche Seele die ganze Welt für ihre Leidenschaft ausbeutet, und daß selbst nach der Genesung alle Gegenstände der Natur uns immer wieder an das erinnern, was wir einst bei ihrem Anblicke fühlten. Dennoch glaube ich, ja, ich glaube kühn, daß diese Gefahren nicht wiederkehren werden, und mein Herz bürgt mir für das Ihrige. Aber ist dieses bewegliche Herz, weil es über eine Nichtswürdigkeit erhaben ist, auch über eine Schwäche erhaben? Und bin ich die Einzige hier, die in Ehren zu halten ihm vielleicht schwer fallen wird? Bedenken Sie, Saint-Preux, daß Alles, was mir theuer ist, unterdem Schilde derselben Achtung stehen muß, die Sie mir schuldig sind. Bedenken Sie, daß Sie unaufhörlich die unschuldigen Tändeleien einer reizenden Frau in Unschuld werden aufzunehmen haben. Bedenken Sie die ewige Verachtung, die Sie verdienen würden, wenn Ihr Herz sich
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