Julie oder Die neue Heloise
einen Augenblick zu vergessen, und was es aus so vielen Gründen zu ehren verpflichtet ist, zu entweihen sich unterfinge.
Ich will annehmen, daß Pflicht, Treue, alte Freundschaft Sie zurückhalten, daß die Schranke, welche Ihnen die Tugend setzt, keine eitlen Hoffnungen aufkommen läßt, und daß Sie wenigstens aus Vernunft vergebliche Wünsche ersticken. Werden Sie deswegen von der Herrschaft der Sinne befreit, und vor den Stricken der Einbildungskraft sicher sein? Gezwungen, uns beiden Achtung zu beweisen, und in uns unser Geschlecht zu vergessen, werden Sie es in denen erblicken, die uns dienen, und werden, indem Sie tiefer herabsteigen, sich gerechtfertigt dünken; aber werden Sie in Wahrheit weniger strafbar sein, und verändert der Unterschied des Ranges so die Natur der Vergehungen? Im Gegentheil, Sie werden sich nur um so mehr erniedrigen, je weniger ehrenhaft die Mittel sind, durch welche Sie Ihren Zweck erreichen werden. Was für Mittel! Sie? .... Ha! Tod dem unwürdigen Manne, der ein Herz kauft und die Liebe zum Miethling macht! Er ist es, der die Erde mit den Verbrechen bedeckt, welche aus der Liederlichkeit entspringen. Wie sollte nicht Die für immer käuflich sein, die sich einmal kaufen läßt? Und wenn sie bald tief in Schmach versinkt, wer ist der Urheber ihres Elends? Der rohe Mensch, der sie an einem schlechten Orte mißhandelt, oder der Verführer, der sie dahin getrieben hat, indem er ihr zuerst ihre Gunstbezeigungen bezahlte?
Soll ich noch eine Betrachtung hinzufügen, die Sie rühren wird, wenn ich mich nicht irre? Sie haben gesehen, wie viel Mühe ich mir gegeben habe, um hier Ordnung und Sittlichkeit einzuführen. Frieden und Züchtigkeit herrschen in meinem Hause; Alles athmet darin Glück und Unschuld. Mein Freund, denken Sie an mich, an sich, an das, was wir waren, an das, was wir sind, an das, was aus uns werden soll, Soll ich eines Tages meine verlorene Mühe beklagen und sprechen müssen: Er ist schuld an der Zerrüttung meines Hausstandes?
Sei denn Alles gesagt, wenn es sein muß, und selbst die weibliche Scheu der wahren Tugendliebe geopfert! Der Mensch ist nicht zum Cölibat geschaffen, und es ist sehr schwer, daß ein der Natur so widerstreitender Zustand nicht irgend eine offenbare oder geheime Unordnung mit sich führe. Wie soll man dem Feinde stets entrinnen, den man unaufhörlich mit sich herumträgt? Sehen Sie in anderen Ländern diese Vermessenen, die das Gelübde ablegen, nicht Menschen zu sein. Zur Strafe, daß sie Gott versucht haben, verläßt sie Gott; sie nennen sich heilig, und sind unehrbar; ihre vorgebliche Enthaltsamkeit ist nur Befleckung, und dafür, daß sie die Menschlichkeit verachtet haben, sinken sie unter dieselbe hinab. Ich begreife, daß es nicht sehr schwer ist, sich in der Beobachtung von Gesetzen strenge zu zeigen, die man nur scheinbar beobachtet
[Einige Menschen sind enthaltsam ohne Verdienst, andere aus Tugend, und ich zweifle nicht, daß manche katholische Priester sich in diesem letzteren Falle befinden; aber das Cölibat einer so zahlreichen Körperschaft, wie der Clerus der katholischen Kirche ist, auferlegen, heißt nicht sowohl, ihr verbieten, Frauen zu haben, als ihr befehlen, sich mit denen Anderer zu begnügen. Ich bin erstaunt, daß in Ländern, wo die Sittlichkit in Achtung steht, Gesetze und Regierungen ein so anstößiges
Gelübde dulden.]
; wer aber aufrichtig tugendhaft sein will, hat schon an den Pflichten des Menschen genug zu tragen, und braucht sich keine neuen aufzulegen. Die wahre Demuth des Christen, lieber Saint-Preux, besteht darin, seine Kräfte stets für die Aufgabe seines Lebens unzureichend zu finden, weit entfernt von dem Hochmuth, sich diese noch verdoppeln zu wollen. Machen Sie hiervon die Anwendung, und Sie werden fühlen, daß eine Lage, die einen anderen Mann nur bedenklich zu machen brauchte, Sie aus tausend Gründen zittern machen muß. Je weniger Sie fürchten, desto mehr haben Sie zu fürchten, und wenn Sie nicht mit Furcht an Ihre Pflichten gehen, so hoffen Sie nicht, sie zu erfüllen.
Das sind die Gefahren, die hier Ihrer warten: bedenken Sie es, solange es noch Zeit ist. Ich weiß, daß Sie nie mit vorbedachter Absicht sich der Gefahr aussetzen werden. Böses zu thun, und das einzige Böse, was ich von Ihnen fürchte, ist solches, das Sie nicht vorausgesehen haben. Ich sage Ihnen also nicht, auf meine Gründe hin einen Entschluß zu fassen, sondern nur, sie in Erwägung zu ziehen. Finden Sie eine
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