Julie oder Die neue Heloise
genieße zugleich der Anhänglichkeit, die mich für meine Freunde beseelt, deren, die sie mir zurückgeben, deren, die sie für einander hegen; ihr gegenseitiges Wohlwollen rührt entweder von mir her, oder bezieht sich auf mich; ich sehe nichts, was nicht mein Wesen erweiterte und nichts, was es zerstückte; in Allem, was mich umgiebt, finde ich es, kein Theil davon ist mehr von mir fern, meine Einbildungskraft hat nichts mehr zu thun, ich habe nichts mehr zu wünschen; empfinden und genießen ist jetzt für mich ein und dasselbe. Ich lebe zu gleicher Zeit in Allem, was ich liebe, habe des Glückes und des Lebens die Fülle. O Tod! komm, wenn du willst, ich fürchte dich nicht mehr, ich habe gelebt, ich bin dir zuvorgekommen, ich habe keine neuen Empfindungen mehr kennen zu lernen, du hast mir nichts mehr zu rauben.
Je mehr ich das Vergnügen empfunden habe, mit Ihnen zu leben, desto süßer war es mir, darauf rechnen zu dürfen, und desto mehr Unruhe hat mir Alles gemacht, was dieses Vergnügen stören konnte. Setzen wir die ängstliche Moral, und die vermeintliche Gottseligkeit, die Sie mir vorwerfen, einen Augenblick bei Seite; gestehen Sie wenigstens, daß der ganze Reiz des geselligen Umganges, der unter uns herrschte, in der Offenheit der Herzen lag, die alle Gedanken, alle Empfindungen gemeinsam macht, und zur Folge hat, daß Jeder, indem er sich so fühlt, wie er sein soll, sich so zeigt, wie er ist. Nehmen Sie einen Augenblick an, daß irgend eine Intrigue, eine Verbindung, die man verstecken müßte, ein Grund zur Zurückhaltung und Verheimlichung bestehe. Im Augenblick ist alle Lust, sich zu sehen, dahin: Einer thut sich vor dem Andern Gewalt an, und sucht sich dessen Blicken zu entziehen: wenn man zusammentrifft, möchte man sich fliehen: die Vorsicht, die Bedachtnahme auf den Anstand haben Argwohn und Mißbehagen in ihrem Gefolge, Wie könnte man Personen lange lieben, die man fürchtet? Man wird sich einander zur Last .... Julie, zur Last .... zur Last ihrem Freunde! Nein, nein, das ist nicht möglich; man hat nie andere Leiden zu fürchten, als solche, die man ertragen kann.
Indem ich Ihnen meine Bedenken in aller Unbefangenheit auseinandersetzte, habe ich nicht die Absicht gehabt, Ihre Entschlüsse zu ändern, sondern sie zu beleuchten, damit Sie nicht vielleicht einen Schritt thun, dessen Folgen Sie nicht alle voraussehen und hinterher, wenn Sie ihn nicht mehr zurückzunehmen wagen, Ursache finden, ihn zu bereuen. Was die Befürchtungen betrifft, die, wie Sie sagen, Herr von Wolmar nicht gehegt habe, so ist es auch nicht seine Sache, sie zu hegen, sondern die Ihrige; Niemand als Sie hat ein Urtheil über eine Gefahr, die nur von Ihnen selbst ausgehen würde. Bedenken Sie sich wohl, alsdann sagen Sie mir, daß die Gefahr nicht mehr vorhanden ist, und ich denke nicht weiter daran, denn ich kenne Ihre Geradheit, und nicht in Ihre Absichten setze ich Mißtrauen. Wenn Ihr Herz fähig ist, in einen unvorhergesehenen Fehltritt zu fallen, so ist Ihnen doch sicher vorbedachtes Böse nie nahe gekommen. Dies ist, was den schwachen Menschen von dem bösen unterscheidet.
Uebrigens, wenn meine Einwendungen mehr Grund hätten, als ich gern glauben mag, warum gleich den ärgsten Fall setzen, wie Sie thun? Ich sehe die Vorsichtsmaßregeln, die zu ergreifen sein würden, nicht mit solcher Strenge an, wie Sie. Würde denn nöthig sein, gleich alle Ihre Pläne abzubrechen und uns auf immer zu meiden? Nein, mein liebenswerther Freund, so traurige Auskunftsmittel sind nicht nothwendig. Noch Kind dem Kopfe nach, sind Sie dem Herzen nach schon alt. Dem, der eine große Leidenschaft ausgekostet, sind alle anderen verleidet; der Seelenfriede, welcher hinterher folgt, ist das einzige Gefühl, das durch den Genuß an Stärke gewinnt. Ein empfindsames Herz fürchtet die Ruhe, die es nicht kennt; fühlt es sie nur einmal, so wird es sie nicht wieder verlieren mögen. Vergleicht manzwei einander so entgegengesetzte Zustände, so lernt man dem besseren den Vorzug geben; aber, um sie zu vergleichen, muß man sie kennen. Was mich betrifft, so sehe ich den Augenblick Ihrer Sicherheit vielleicht näher, als Sie ihn selbst sehen. Sie haben zu sehr empfunden, um lange zu empfinden; Sie haben zu sehr geliebt, um nicht gleichgültig zu werden; die Asche, die aus dem Ofen kommt, läßt sich nicht wieder entzünden, aber man muß warten, bis Alles todt ist. Noch einige Jahre Selbstbewachung, und Sie haben keine Gefahr mehr zu
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