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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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habe ich nöthig zu denken, mir Vorstellungen zu machen, in einem Augenblick, in welchem alle meine Fähigkeiten dahingenommen sind? Die Trunkenheit hat ihre Lust, sagten Sie; nunwohl, dieses Außersichsein ist eine; entweder lassen Sie mich in einem Zustande, der mir angenehm ist, oder zeigen Sie mir, auf welche Weise ich mich besser befinden kann.
    Ich habe die Extasen der Mystiker getadelt; ich tadele sie noch, wenn sie uns von unsern Pflichten abziehen, und indem sie uns das thätige Leben durch die Reize der Contemplation verleiden, uns zu jenem Quietismus führen, dem Sie mich so nahe glauben, und von dem ich glaube, eben so weit entfernt zu sein, als Sie.
    Ich weiß wohl, Gott dienen heißt nicht, sein Leben auf den Knien in einer Betkammer hinbringen; es heißt, die Pflichten auf Erden erfüllen, die er uns auferlegt; es heißt, in der Absicht, um ihm zu gefallen, Alles thun, was der Stand erfordert, in den er uns gestellt hat:
— — — — il cor gradisce,
    E serve a lui chi 'l suo dover compisce.

    [— — — vor dem das Herz nur gilt,
    Dem der nur dient, der seine Pflicht erfüllt.]

    Man muß zuvörderst thun, was die Pflicht gebietet und dann beten, wenn man kann; dies ist die Regel, die ich zu befolgen trachte. Ich betrachte die Sammlung, aus der Sie mir einen Vorwurf machen, nicht wie eine Beschäftigung, sondern wie eine Erholung, und ich sehe nicht ein, warum ich mir unter den Vergnügungen, die mir zu Gebote stehen, die genußreichste und unschuldigste von allen versagen sollte.
    Ich habe mich seit Ihrem Briefe noch mit mehr Sorgfalt geprüft, ich habe die Wirkungen studirt, welche dieser Hang, der Ihnen so sehr zu mißfallen scheint, auf meine Seele hervorbringt, und ich kann bis jetzt nichts darin entdecken, was mich, wenigstens so bald, die Ausartung in eine mißverstandene Frömmigkeit befürchten ließe.
    Erstlich habe ich an dieser Uebung kein so lebhaftes Gefallen, daß es mir schmerzlich wäre, wenn ich sie entbehren muß, oder daß es mich verstimmte, wenn ich von ihr abgezogen wäre. Sie zerstreut mich auch nicht am Tage, und macht mich nicht widerwillig und ungeduldig in der Ausübung meiner Pflichten. Wenn mir mein Cabinet manchmal ein Bedürfniß ist, so ist dies dann der Fall, wenn mich etwas mächtiger bewegt, und ich mich überall sonst weniger gut befinden würde; dann finde ich, wenn ich in mich einkehre, die Stille meines Geistes wieder. Wenn irgend eine Sorge mich beunruhigt, wenn irgend ein Kummer mich betrübt, so gehe ich hin, um ihn dort abzuwerfen. Alle diese Jämmerlichkeiten lösen sich vor einem gewaltigeren Gegenstande in Nichts auf. Indem ich an alle Wohlthaten der Vorsehung denke, schäme ich mich, für so geringe Kränkungen empfindlich zu sein, und so große Gnaden zu vergessen. Ich habe weder häufge noch lange Gebetzeiten nöthig. Wenn mich die Traurigkeit wider Willen auch dahin verfolgt, so sind einige Thränen vor Dem vergossen, der Trost verleiht, genug, um meinem Herzen augenblicklich Erleichterung zu verschaffen. Meine Betrachtungen sind niemals bitter oder schmerzlich; meine Reue sogar hat nichts, was mich quälte; meine Fehler verursachen mir wenigerSeelenangst als Scham; ich beseufze sie, aber Gewissensbisse sind es nicht. Der Gott, dem ich diene, ist ein Gott der Milde, ein Vater: was mich rührt, ist seine Güte: sie löscht in meinen Augen alle seine anderen Eigenschaften aus; sie ist die einzige, die ich begreife. Seine Allmacht setzt mich in Erstaunen, seine Unermeßlichkeit drückt mich darnieder, seine Gerechtigkeit .... Er hat den Menschen schwach gemacht; da er gerecht ist, so ist er gütig. Der Gott der Rache ist der Gott der Bösen: ich vermag ihn weder für mich zu fürchten, noch gegen einen Anderen anzurufen. O Gott des Friedens, Gott der Güte, dich, dich bete ich an! Ich fühle, daß ich dein Werk bin, und hoffe dich im letzten Gerichte so zu finden, wie du während meines Lebens zu meinem Herzen sprichst!
    Ich kann Ihnen nicht sagen, wie diese Gedanken mir mein Leben versüßen und mir das Herz in seinen Tiefen mit Freude füllen. Wenn ich so vorbereitet aus meinem Cabinet komme, fühle ich mich froher und leichter; alles Leid ist verflogen, jede Angst und Unruhe verschwunden; nichts ist rauh, nichts eckig, Alles wird glatt und leicht, Alles nimmt in meinen Augen eine lachendere Miene an; es fällt mir nicht schwer, freundlich und gefällig zu sein; die ich liebe, liebe ich noch mehr, und bin ihnen noch angenehmer, mein Mann selbst

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