Julie oder Die neue Heloise
ein, die ich nicht verstehe; ich halte mich an die lichtvollen Wahrheiten, die mir klar vor Augen stehen und meine Vernunft überzeugen, an die praktischen Wahrheiten, die mich über meine Pflichten aufklären. In Betreff alles Uebrigen habe ich mir die Antwort, die Sie einmal Herrn von Wolmar gaben
[Abtheil. V. Brief 3.]
, zur Richtschnur genommen. Hat man es in seiner Gewalt, zu glauben, oder nicht zu glauben? Ist es ein Verbrechen, nicht richtig argumentiren zu können? Nein, das Gewissen belehrt uns nicht über das wahre Wesen der Dinge, sondern über unsere Pflichten; es schreibt uns nicht vor, was wir denken, sondern was wir thun sollen; es lehrt uns nicht treffend folgern, sondern gut handeln. Worin könnte mein Mann strafbar sein vor Gott? Hat er absichtlich die Augen vor ihm verschlossen? Gott selbst hat ihm den Blick umschleiert. Nicht er flieht die Wahrheit, die Wahrheit flieht ihn. Kein Hochmuth verleitet ihn; er will Niemanden irre führen; es ist ihm ganz recht, wenn man nicht so denkt wie er. Unsere Art zu fühlen ist ihm lieb, er würde sie sich gern aneignen, kann aber nicht: unsere Hoffnung, unser Trost, Alles entgeht ihm. Er thut das Gute, ohne Lohn zu erwarten, er ist tugendhafter, uneigennütziger als wir. Ach! er ist zu beklagen, aber wofür sollte er bestraft werden? Nein, nein, Güte, Geradsinn, Sittlichkeit, Rechtschaffenheit, Tugend, das ist ja, was der Himmel fordert und belohnt; es ist ja der wahre Cultus, den Gott von uns verlangt, und diesen übt er alle Tage seines Lebens. Wenn Gott den Glauben nach den Werken richtet, so heißt an ihn glauben ein guter Mensch sein. Der wahre Christ ist der Gerechte, die Bösen sind die wahren Ungläubigen.
Wundern Sie sich also nicht, mein liebenswürdiger Freund, wenn ich über verschiedene Punkte Ihres Briefes worüber wir nicht einerlei Meinung sind, mit Ihnen nicht streite: ich weiß zu gut, was Sie sind, um mir über das, was Sie glauben, Sorge zu machen. Was kümmern mich alle die müßigen Fragen über menschliche Freiheit? Möge ich nun Freiheit haben, das Gute von mir selbst zu wollen, oder durch's Gebet diesen Willen erhalten: wenn ich nur dazu gelange, gut zu handeln, kommt dann nicht Alles auf eins hinaus? Ob ich mir, indem ich bitte, das, was mir fehlt, selber gebe, oder ob Gott es mir auf meine Bitte gewährt, wenn ich jedenfalls, um es zu haben, bitten muß, bedarf ich dann weiterer Aufklärungen? Glück genug, wenn wir über die Hauptpunkte unseres Glaubens einverstanden sind: was suchen wir mehr? Wollen wir uns in die bodenlosen Abgründe der Metaphysik stürzen, und mit Streiten über die Wesenheit Gottes die kurze Zeit vergeuden, die uns geschenkt ist, um ihn zu ehren? Wir kennen sein Wesen nicht, aber wir wissen, daß er ist: das genüge uns: er giebt sich in seinen Werken kund und macht sich fühlbar in unserem eigenen Innern. Disputiren können wir gegen sein Dasein, aber nicht es ernstlich leugnen. Er hat uns die Empfindlichkeit der Seele gegeben, mittelst deren wir ihn wahrnehmen, und von ihm ergriffen werden: beklagen wir Diejenigen, denen dies versagt ist, ohne uns zu schmeicheln, daß wir ihnen ihren Mangel klar machen werden. Wer von uns könnte das ausrichten, was Gott selbst nicht hat thun wollen? Verehren wir seine Rathschlüsse schweigend, und thun wir unsere Schuldigkeit! Dies ist das beste Mittel, Andern die ihrige zu lehren.
Kennen Sie einen Menschen von mehr Verstand und Ueberlegung als Herrn von Wolmar, einen, der aufrichtiger, gerader, gerechter, wahrer, weniger von seinen Leidenschaften abhängig ist, und der bei der göttlichen Gerechtigkeit und der Unsterblichkeit der Seele mehr zu gewinnen hätte als er? Kennen Sie einen Mann von kräftigerem, erhabenerem, schwungreicherem Geiste, von schneidenderer Schärfe im Disputiren, als Milord Eduard; würdiger, durch seine Tugend die Sache Gottes zu vertheidigen, überzeugter von Gottes Dasein, durchdrungener von seiner höchsten Majestät, eifriger entbrannt für Gottes Ruhm und mehr geeignet, diesen kund zu machen? Sie waren Zeuge von dem, was während dreier Monate in Clarens vorging; Sie haben zwei von Hochachtung für einander erfüllte Männer, die durch Stand und Neigung von allem Schulgezank weit entfernt sind, einen ganzenWinter hindurch bemüht gesehen, in vernünftigen und ruhigen, aber lebendigen und tiefen Gesprächen sich gegenseitig aufzuklären, angreifend, sich vertheidigend, sich bei jedem schwachen Punkt, den menschliche Auffassung darbieten mag,
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