Julie oder Die neue Heloise
ist zufriedener mit meiner Stimmung. Die Gottseligkeit, behauptet er, ist ein Opium für die Seele: sie stimmt fröhlich, belebt und erhält die Kräfte, wenn man wenig davon genießt; eine zu starke Dosis schläfert ein, macht wüthend oder tödtet. Ich hoffe nicht zu weit darin zu gehen.
Sie sehen, daß ich über den Titel einer Frommen nicht so böse bin, als Sie vielleicht gewollt haben, aber ich lege ihm auch nicht soviel Werth bei, als Sie vielleicht glaubten. Ich liebe es zum Beispiel nicht, daß man diesen Zustand äußerlich zur Schau trage und wie eine Art Geschäft behandele, das alle anderen überflüssig macht. So hätte die Madame Guyon, deren Sie erwähnten, besser gethan, wie mir scheint, ihre Pflichten als Mutter sorgsam zu erfüllen, ihre Kinder christlich aufzuziehen, ihrem Hause klüglich vorzustehen, anstatt gottselige Bücher zu schreiben, mit Bischöfen zu disputiren und sich um sinnlose Phantastereien in die Bastille sperren zu lassen. Ich liebe auch die mystische und bildliche Sprache nicht, welche das Herz mit den Trugbildern der Phantasie nährt, und der wahren Liebe Gottes Gefühle unterschiebt, welche der irdischen Liebe nachgebildet und nur zu geeignet sind, sie zu erwecken. Ein je zärtlicheres Herz und eine je lebhaftere Einbildungskraft man hat, desto mehr soll man alles Aufregende vermeiden; denn in der That, wie könnte man die mystischen Bezüge in sich erfahren, ohne die sinnlichen zu erfahren, aus denen sie entlehnt sind? Und wie darf sich eine gesittete Frau mit Vertrauen Phantasiebildern hingeben, deren Vorbilder sie in der Wirklichkeit nicht anzuschauen wagen würde
[Dieser Einwurf scheint mir so gegründet und unwiderleglich, daß ich, wenn ich die geringste Macht in der Kirche hätte, sie dazu anwenden würde, das hohe Lied aus unsern heiligen Büchern zu streichen, und ich würde es je eher je lieber thun.]
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Was mir aber die Frommen von Profession am meisten entfremdet, ist die Starrheit, welche sie menschlichen Gefühlen unzugänglich macht, ist ihr unmäßiger Stolz, der sie verleitet, auf die ganze übrige Welt mit Verachtung niederzublicken. Wenn sie sich bei ihrem hohen Fluge zu irgend einer Liebeshandlung herablassen, so geschieht es in so demüthigender Weise, sie drücken ihr Mitleid mit Anderen so kränkend aus, ihre Gerechtigkeit ist so herbe, ihre Menschenliebe so hart, ihr Eifer so bitter, ihre Verachtung dem Hasse so ähnlich, daß selbst die Gefühllosigkeit der Weltleute weniger barbarisch ist, als ihr Mitgefühl. Die Liebe Gottes dient ihnen zum Vorwand, um keinen Menschen zu lieben; sie lieben sich selbst unter einander nicht. Hat man je wahre Freundschaft unter Frommen gesehen? Aber je mehr sie sich von den Menschen ablösen, desto größer sind ihre Ansprüche an dieselben, und man möchte sagen, daß sie sich nur zu Gott erheben, um seine Autorität auf Erden auszuüben.
Ich fühle in mir gegen alle diese Mißbräuche eine Abneigung, die mich ganz natürlich vor ihnen bewahren muß; wenn ich in sie verfallen sollte, so könnte es sicherlich nur ohne meinen Willen geschehen, und ich hoffe von der Freundschaft aller Derer, die mich umgeben, daß sie mich nicht ungewarnt lassen werden. Ich gestehe Ihnen, daß ich über das künftige Schicksal meines Mannes lange Zeit in einer Unruhe gewesen bin, die mich, wenn sie fortgedauert hätte, vielleicht ganz unglücklich gemacht haben würde. Glücklicherweise hat Milord Eduard, durch den verständigen Brief, auf welchen Sie mich mit großem Rechte verweisen, durch seine tröstlichen und vernünftigen Gespräche, und auch Sie durch die Ihrigen haben meine Furcht zerstreut und mich auf andere Meinung gebracht. Ich sehe, daß Unduldsamkeit nothwendig die Seele verhärten muß. Wie soll man Diejenigen zärtlich lieben, die man verdammt?
Welches Mitgefühl könnte man für Verworfene nähren? Sie lieben hieße ja Gott hassen, der sie verurtheilt. Wollen wir also menschlich sein, wohl, richten wir die Handlungen, und nicht die Menschen; greifen wir nicht in das fürchterliche Amt der bösen Geister; schließen wir unsern Brüdern nicht so leichtfertig die Hölle auf! Ach, wenn sie Denen bestimmt wäre, die in Irrthum befangen sind, welcher Sterbliche könnte ihr dann entgehen?
O meine Freunde, welche Last habt ihr mir vom Herzen gewälzt! Indem ihr mich belehrtet, daß Irrthum kein Verbrechen ist, habt ihr mich von tausend beunruhigenden Zweifeln befreit. Ich lasse mich auf keine spitzfindige Auslegung von Dogmen
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